Der Fall
Saras Großvater ist gestern Abend in der U-Bahn die Treppe runtergefallen und –«
»Jetzt regen Sie sich mal wieder ab. Ich habe gehört, was passiert ist.«
»Von wem?«
»Wie gesagt, ich habe es gehört … aber ich hatte nichts damit zu tun.«
»Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Glauben Sie meinetwegen, was Sie wollen, aber das ist die Wahrheit. Wenn wir es getan hätten, hätten wir auf jeden Fall dafür gesorgt, dass Sie es auch erfahren. Wozu sonst der Aufwand?«
Jared dachte kurz über Kozlows Argument nach. »Dann waren Sie es also nicht?«
Kozlow grinste. »Ausnahmsweise sind wir unschuldig, Chef. Der alte Mann ist einfach die Treppe runtergefallen.«
Wieder allein in ihrem Büro, griff Sara nach dem Telefon und wählte die Nummer von Jareds Kanzlei. »Wayne und Portnoy«, meldete sich die Empfangsdame. »Was kann ich für Sie tun?«
»Könnten Sie mich bitte zur Rechnungsabteilung der Buchhaltung durchstellen?«
Nach einer kurzen Pause meldete sich eine Frauenstimme: »Hallo, hier Roberta.«
»Hi, Roberta«, sagte Sara betont freundlich. »Hier ist Kathleen aus Jared Lynchs Büro. Könnten Sie mir vielleicht helfen, ein paar Informationen über einen Mandanten zu finden, der Kozlow –«
»Wer sind Sie eigentlich?«, unterbrach sie Roberta.
Erschrocken antwortete Sara: »Kathleen.«
»Kathleen wer?«
»Kathleen Clark.« Sara konnte sich von der Weihnachtskartenliste des letzten Jahres an Kathleens Nachnamen erinnern.
»Also, das finde ich aber wirklich komisch, weil Kathleen Clark nämlich erst vor zwei Minuten hier war, um Briefmarken zu kaufen. Möchten Sie also noch mal von vorn anfangen, oder soll ich die Polizei rufen?«
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, legte Sara auf.
Eine Minute später kam Guff herein, ohne anzuklopfen. Nach einem Blick auf Sara fragte er: »Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?«
»Keine. Ich habe nur versucht, in Jareds Kanzlei anzurufen und –«
»Sie sind Ihnen auf die Schliche gekommen, nicht?« Guff schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihnen doch gesagt, lassen Sie das. Sie wissen ganz genau, das ist nicht korrekt.«
»Ach, sind Sie jetzt plötzlich Mr. Hyperkorrekt?«
»Sara, ich weiß, wer ich bin. Ich kenne meine Fehler. Ich verallgemeinere zu stark, ich bin generell pessimistisch, ich mag keine Kinder, ich benutze keine Zahnseide, ich glaube nicht an Selbstentzündung, ich halte die meisten Menschen für werbeindustrieabhängige Schafe, die bloß darauf warten, dass sie in ihren Glotzen das nächste Firmenlogo zu sehen bekommen, das sie sich auf die Brust pappen können, und ich glaube, Männer mit Spitzbärten sind grundsätzlich bescheuert. Aber ich weiß auch, dass meine Tage gezählt sind. Und im tiefsten Innern meiner finsteren Seele ist mir bewusst, dass meine Ansichten Beachtung finden werden, wenn meine Zeit gekommen ist. Nur um mich zu quälen, werden sie im Fernsehen verbreitet werden. Aber damit kann ich leben, weil ich mich selbst verstehe. Ich kenne meinen Platz im Leben.«
»Und ich nicht?«
»Nein. Sie nicht. Sie sind jetzt ein SBA. Sie dürfen nichts tun, was Sie einmal bereuen könnten.«
»Haben Sie schon wieder vergessen, was gestern passiert ist, Guff? Dieser Kerl hat mir gedroht, Jared etwas anzutun, und dann hat er Pop die Treppe runtergestoßen.«
»Sie wissen doch gar nicht –«
»Und ob ich es weiß!« Sara ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen und mit meinen eigenen Ohren gehört. Man muss kein Genie sein, um sich alles Weitere zusammenzureimen. Wir sprechen hier von den zwei wichtigsten Menschen in meinem Leben. Wenn ich einen von ihnen verliere, und das auch noch durch eigenes Verschulden, würde ich …« Sie hielt inne. »Jedenfalls ist für mich an diesem Punkt das Maß voll. Wenn die Sicherheit meiner Familienangehörigen auf dem Spiel steht, ist es wohl kaum eine Todsünde, in der Kanzlei meines Mannes anzurufen.«
»Um eine Lawine auszulösen, ist nur eine einzige Schneeflocke nötig.«
»Guff, bitte – ich habe es auch so schon schwer genug.«
»Ich weiß, und ich weiß auch, wie viel sie Ihnen bedeuten. Ich versuche nur, Ihnen unnötigen Ärger zu ersparen.«
»Danke«, sagte Sara. »Das weiß ich auch zu schätzen.«
»Weil wir gerade beim Thema Lügen sind: Warum haben Sie Moore nichts von dem Türknauftyp erzählt?«
»Weil ich wusste, wie er reagieren würde. Wenn er erfahren hätte, dass dieser Kerl mir gedroht hat, hätte er sich sofort
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