Der falsche Apostel
weil sein Wissen von der Existenz einer Goldmine
unter den ehrwürdigen Gebäuden hier verschwiegen werden sollte. War die Person, die ihn umgebracht hat, im Recht oder im Unrecht?
Welche Maßstäbe sollen wir anlegen, um das zu beurteilen? Einem Menschen das Leben zu nehmen ist unserem Gesetz nach unrechtmäßig.
Wenn aber Sillán sein Wissen preisgegeben und man unsere Gemeinschaft daraufhin von hier vertrieben hätte oder wenn es sogar
zu einem Krieg zwischen den um diesen Flecken Erde ringenden Kräften gekommen wäre, wäre das dann Gerechtigkeit gewesen? Vielleicht
gibt es doch so etwas wie eine natürliche Gerechtigkeit, die über den Dingen steht?«
»Ich kann dir durchaus folgen, Fidelma«, erwiderte die Äbtissin. »Der Tod eines Unschuldigen kann den Tod zahlloser anderer
Menschen verhindern.«
»Aber haben wir das Recht, das zu entscheiden? Ist das nicht etwas, was wir Gott überlassen sollten?«
»Manchmal zeigt uns Gott Mittel und Wege, seinen Willen in die Tat umzusetzen.«
Schwester Fidelma sah die Äbtissin fest an. »Es gibt jetzt nur zwei Menschen, die von Silláns Entdeckung wissen.«
»Zwei?«, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch.
»Die eine bin ich, und du, Ehrwürdige Mutter, bist die andere.«
|50| Die Äbtissin runzelte die Stirn. »Derjenige, der Follaman getötet hat, muss es doch auch wissen.«
»Gewusst haben«, verbesserte Fidelma sie vorsichtig.
»Das musst du mir erklären.«
»Follaman hat den Schierling beigemischt und somit Sillán getötet.«
Die Äbtissin biss sich auf die Lippen.
»Weshalb hätte Follaman so etwas tun sollen?«
»Aus dem gleichen Grund, über den wir eben gesprochen haben, um zu verhindern, dass Sillán über die Goldader etwas verlauten
lassen kann.«
»So weit, so gut. Aber wieso Follaman? Er war ein einfacher, rechtschaffener Mensch«, stellte die Äbtissin fest.
»Rechtschaffen und treu ergeben. Hat er nicht seit seiner Jugend hier im Kloster als Verwalter des Gästehauses gearbeitet?
Er fühlte sich mit dem Haus hier ebenso verbunden wie jeder andere unserer Gemeinschaft. Auch wenn er kein frommer Bruder
war, so war er doch einer der Unseren.«
»Wie konnte er von der Sache wissen?«
»Er hat deinen Streit mit Sillán mit angehört. Vermutlich hat er absichtlich gelauscht. Er wusste oder ahnte, welchen Beruf
Sillán ausübte. Vielleicht ist er ihm auf seinen Erkundungen auch gefolgt. Ob er es getan hat oder ob nicht, spielt jetzt
auch keine Rolle. Als Sillán gestern Nachmittag zurückkam und ihm eröffnete, er würde am nächsten Morgen nach Ráith Imgain
zurückkehren, schlussfolgerte Follaman, dass er auf einen Fund gestoßen sein müsste. Als Sillán zu dir ging, ist er ihm wahrscheinlich
gefolgt und hat das Gespräch zwischen euch belauscht.
Da du nicht gegen Gottes oder die von Menschen geschaffenen Gesetze verstoßen konntest, glaubte er auf seine Weise eine natürliche
Gerechtigkeit walten zu lassen. Er entwendete aus |51| der Apotheke den Krug mit dem giftigen Schierling, und als Sillán um ein Getränk bat, mischte er etwas davon bei. Von der
nötigen Menge für eine entsprechende Wirkung hatte er keine Ahnung, und deshalb spürte Sillán auch nichts, sondern erst später,
als die Glocke zur Abendmahlzeit geläutet hatte.«
Äbtissin Ita folgte aufmerksam Fidelmas Ausführungen.
»Und dann?«
»Dann begann ich mit meinen Nachforschungen. Dann tauchte auch der
tánaiste
von Uí Failgi auf, der Sillán oder wenigstens eine Erklärung für seinen Tod suchte.«
»Wer aber hat Follaman getötet?«
»Follaman wusste, dass man ihn früher oder später als Täter entlarven würde. Die Schuld, die er mit dem Tod eines anderen
Menschen auf sich geladen hatte, quälte sein einfaches Gemüt. Rechtschaffen, wie er war, beschloss er, die Strafe auf sich
zu nehmen. Den Ehrenpreis für ein Leben. Konnte er für das Leben Silláns einen größeren Ehrenpreis zahlen, als sein eigenes
hinzugeben? Er entschied sich für einen kräftigen Schluck des giftigen Schierlings.«
Beide schwiegen eine Weile.
»Was du sagst, klingt einleuchtend, Schwester Fidelma. Aber lässt sich deine Erklärung erhärten?«
»Als ich Follaman befragte, konnte er mir genau Auskunft über Silláns Beruf geben. Das ist das eine. Zum anderen gab es zwei
Ungereimtheiten: Er sagte, er hätte Sillán höchst verärgert aus deinem Zimmer kommen sehen. Deine Räumlichkeiten liegen aber,
vom Gästehaus aus gesehen, am anderen Ende
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