Der falsche Apostel
war darauf gefasst, Widerspruch
zu ernten.
Doch sie schwieg wohlweislich, denn der Abt schien nicht in der Stimmung, theologische Grundsätze zu erörtern.
»Es sind die Geschehnisse hier, die mich veranlasst haben, dich nach Tara zu bitten«, redete der Abt weiter und betrat die
Kapelle des heiligen Patrick, die man vor Zeiten neben dem Palas der Hochkönige errichtet hatte. Schwester Fidelma folgte
ihm in das düstere, weihrauchgeschwängerte Innere, beugte das Knie vor dem Altar und ging gleich ihm in die Sakristei. Er
ließ sich auf einem mit Leder bezogenen Lehnstuhl nieder und bedeutete Fidelma, es ihm gleichzutun.
Sie setzte sich und sah ihn erwartungsvoll an.
»Ich habe dich herkommen lassen, Schwester Fidelma, weil du Anwältin bist, eine
dálaigh
an den Gerichten der Brehons, und daher im Rechtswesen bewandert.«
Sie zuckte bescheiden mit den Schultern und blieb entspannt. »Ich habe an die acht Jahre bei Brehon Morann studiert, möge
seine Seele in Frieden ruhen, und habe den Grad eines
anruth
erworben.«
Der Abt schürzte die Lippen. Er hatte noch nicht seine Verunsicherung |58| überwunden, es mit einer jungen Frau zu tun zu haben, die so hochgebildet in Rechtsfragen war und einen Gelehrtengrad besaß,
der selbst den Höchsten im Lande Achtung abnötigte. Ihr Rang stand nur eine Stufe unter der des
ollamh
, des Obersten Richters, der selbst in Gegenwart des Hochkönigs sitzen durfte. Der Abt fühlte sich befangen gegenüber der
Glaubensschwester aus Kildare. In religiösen Fragen war er zwar ihr Vorgesetzter, doch ihrer gesellschaftlichen Stellung und
ihrer Autorität im Gesetzeswesen hatte auch er den Respekt zu zollen, der ihr als einer
dálaigh
bei den hohen Gerichten Irlands zukam. »Man hat mir berichtet, welche Qualifikation du besitzt und welches Ansehen du genießt.
Abgesehen von deinem Wissen und deiner Weisungsbefugnis soll dir aber ein ungewöhnliches Talent zu eigen sein, verworrene
Sachverhalte aufzuklären.«
»Wer immer dir das berichtet hat, übertreibt gewiss. Ich habe dazu beitragen können, etliche Streitfragen zu schlichten. Und
die bescheidene Fähigkeit, die ich in dieser Hinsicht habe, steht dir zu Diensten.«
Schwester Fidelma schaute den Abt an, während der sich nachdenklich das Kinn rieb.
»Viele Jahre haben wir unter der gemeinsamen Herrschaft der Hochkönige Blathmac und Diarmuid in Ruhe und Frieden gelebt. Es
nimmt nicht Wunder, wenn ihr so rasch aufeinander erfolgter Tod als besonders schwerer Schicksalsschlag empfunden wird.«
Schwester Fidelma hob eine Augenbraue. »Willst du damit sagen, bei ihrem Tod sei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen?
Hast du mich deshalb hergebeten?«
»Nein.« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Sie erlagen der schrecklichen Gelben Pest, die alle fürchten und die niemand
überlebt. Es ist Gottes unerforschlicher Ratschluss.« Der Abt |59| hielt inne und schien eine Erwiderung Fidelmas zu erwarten, doch sie schwieg, und so fuhr er fort. »Nein, Schwester, beim
Tod von Blathmac und Diarmuid hat sich nichts Verdacht Erregendes zugetragen. Das Problem ergibt sich bei der Nachfolge ins
Königsamt.«
Das wunderte sie. »Soviel ich weiß, hat der Große Rat beschlossen, dass Sechnussach, der Sohn Blathmacs, Hochkönig werden
soll.«
»Ja, so haben die Kleinkönige und Stammesältesten aller Provinzen Irlands entschieden. Doch bislang ist Sechnussach nicht
auf dem heiligen Stein des Schicksals in sein Amt eingeführt worden.« Der Abt zögerte. »Kennst du das Königsgesetz?«
»In welcher Hinsicht?«, forschte Schwester Fidelma und durchdachte im Stillen, worauf er hinauswollte.
»Ich meine den Teil, in dem die sieben Bedingungen abgehandelt werden, die ein rechtmäßiger König erfüllen muss.«
»In der Rechtsprechung der Brehons ist festgelegt, dass ein rechtmäßiger König sieben Bedingungen zu erfüllen hat«, führte
Fidelma pflichtgemäß aus. »Seine Wahl muss vom Großen Rat bestätigt werden. Er muss an den Einen Wahren Gott glauben. Er soll
die Insignien seines Amtes heilig halten und ihnen die Treue bewahren. Er soll nach dem Gesetz der Brehons regieren, und seine
Entscheidungen sollen wohlüberlegt, gerecht und makellos sein. Er soll das Wohlergehen des Volkes fördern, und er soll seine
Krieger niemals in einen ungerechten Krieg führen. Ferner …«
Der Abt hob die Hände und unterbrach sie. »Ja, ja. Ich sehe schon, du kennst deine Gesetze. Doch nun liegen die Dinge
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