Der falsche Apostel
von Schwester Poitigéir erfahren, dass er ihr im
Kräutergarten zur Hand ging und gewusst haben muss, wie Schierling aussah.«
»Wie Schierling aussah, wusste Follaman, ja. Aber welches die zerstoßenen Schierlingsblätter waren, hätte man ihm sagen müssen.
Dafür muss man Farben unterscheiden können. Nachdem die ursprüngliche Blattform zerstört war, konnte Follaman die lila und
weißen Spitzen des zerstoßenen Gemischs nicht erkennen und sich folglich nicht den richtigen Krug greifen. Follaman war nämlich
farbenblind; er war unfähig, Farben zu unterscheiden. Jemand musste ihm also das Gift gegeben haben, damit er es beimischen
konnte.«
Mit schmalem, zusammengekniffenem Mund saß die Äbtissin vor ihr. »Aber Follaman habe ich nicht getötet«, erklärte sie wütend.
»Ich gebe zu, ich habe Follaman nahegelegt, dass unserer Gemeinschaft am besten mit Silláns Tod gedient wäre, ich gebe auch
zu, dass ich ihm eine Möglichkeit eröffnet habe, wie man ihn mundtot machen könnte, aber wer hat Follaman getötet? Ich war
es nicht.«
»Nein«, erwiderte Fidelma. »Es war, wie ich gesagt habe. Follaman ist deinem Vorschlag gefolgt und hat Sillán das Gift verabreicht, |55| weil du ihm eingeredet hast, es wäre Gottes Wille. Du hast ihn als Werkzeug benutzt. Er aber, ein einfacher und rechtschaffener
Mann, konnte nicht mit der Schuld leben, einen Menschen umgebracht zu haben. Er übte an sich selbst Vergeltung und nahm sich
das Leben. Er hatte etwas von dem Schierling zurückbehalten und in seiner Zelle zur Seite gestellt. Vergangene Nacht hat er
ihn getrunken und so seine Tat gesühnt. Er hat die Buße auf sich genommen, Ehrwürdige Mutter, die Schuld aber bleibt deine.«
Ratlos sah die Äbtissin sie an. »Was soll ich tun?«, fragte sie mit gebrochener Stimme.
Ein zynisches Lächeln glitt über Fidelmas Gesicht.
»Mit deiner Erlaubnis werde ich Kildare noch heute Vormittag verlassen. Zuvor werde ich dem
tánaiste
des Uí Failgi Bericht erstatten. Du hast nichts zu befürchten. Mein oberstes Anliegen ist das Wohlergehen der Gemeinschaft.
Das Wohlergehen der Menschen hier wiegt stärker als das Gesetz. Doch ich werde nach Armagh zum Schrein des heiligen Patrick
pilgern und Buße tun für die Unwahrheit meines Berichts.« Sie machte eine Pause und blickte der verstörten Äbtissin in die
Augen. »Dein Schuldgefühl kann ich dir nicht nehmen, Ehrwürdige Mutter. Ich denke, du solltest dir einen verständnisvollen
Beichtvater suchen und auf seinen Beistand hoffen.«
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|56| DAS SCHWERT DES HOCHKÖNIGS
»Gottes Fluch liegt auf diesem Land«, stöhnte Abt Colmán, der geistliche Berater des Großen Rats der Stammesfürsten der fünf
Königreiche Irlands.
Seine Worte waren an eine schlanke Frau neben ihm gerichtet. Gemeinsam schritten sie über den Vorhof der prächtigen Burg von
Tara, dem Sitz der Hochkönige Irlands. Sie trug das Gewand einer Klosterschwester und hielt die Hände sittsam vor sich gefaltet.
Selbst aus der Entfernung erkannte man, dass ihre schlichte Tracht wenig zu ihrer jugendlichen, wohlgestalten Figur passte.
Widerspenstige Strähnen roten Haars lugten unter der Kapuze ihres Habits hervor und verstärkten den Reiz, der von ihrem hellen
frischen Gesicht mit den blitzenden grünen Augen ausging. Die Grübchen in ihren Wangen verliehen ihr eine Schalkhaftigkeit,
die im Widerspruch zu dem zur Schau getragenen Ernst stand.
»Wenn Menschen Gott bezichtigen, er würde sie verdammen, dann suchen sie meist Ausflüchte, weil sie nicht eingestehen wollen,
dass sie ihre Lage selbst verschuldet haben«, gab Schwester Fidelma zu bedenken.
Der Abt, ein rundlicher Mann in den Mittfünzigern mit gerötetem Gesicht, runzelte die Stirn und schaute die junge Frau an.
Wollte sie ihn etwa rügen?
»Für die schreckliche Gelbe Pest, die das Land heimgesucht |57| hat, können die Menschen doch wohl wirklich nichts«, erwiderte er verstimmt. »Ein Drittel unserer Bevölkerung hat die Seuche
dahingerafft. Sie kannte kein Erbarmen, verschonte weder Abt, Bischof noch einfachen Priester.«
»Selbst Hochkönige nicht«, bemerkte Schwester Fidelma spitz.
Vor einer Woche erst war die Landestrauer um die Brüder Blathmac und Diarmuid, die gemeinsam als Hochkönige geherrscht hatten,
zu Ende gegangen. Innerhalb weniger Tage waren auch sie Opfer der grimmigen Pest geworden.
»Und das soll nicht Gottes Fluch gewesen sein?«, beharrte der Abt mit finsterer Miene und
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