Der falsche Apostel
»Worauf willst du hinaus, Gerróc?«
»Vor wenigen Tagen musste ich Nechtan eröffnen, dass er vermutlich den nächsten Neumond nicht mehr erleben würde. Sein Tod
war unvermeidlich. Das Gewächs vergrößerte sich und verursachte ihm zunehmende Pein. Ich wusste, seine Tage waren gezählt.
Warum also hätte ich ihn ermorden sollen? Gott hatte bereits befunden, wann und wie ihn der Tod ereilen würde.«
Nahezu bösartig frohlockte Daolgar: »Dann bleibst nur noch du,
tánaiste
der Múscraige. Dass dein Stammesfürst dem Tod nahe war, konntest du nicht wissen, und du hattest sowohl ein Tatmotiv als auch
die Gelegenheit.«
Marbán war aufgesprungen; die Hand griff an den Gürtel, |459| wo sonst sein Schwert hing. Aber er befand sich in einer Festhalle, und das Gesetz verlangte, bei einem Festmahl durften keine
Waffen getragen werden.
»Für diese Anschuldigung wirst du dich rechtfertigen müssen, Stammesfürst der Sliabh Luachra!«, donnerte er.
Cuill hingegen unterstützte Daolgars Gedankengang.
»Du warst mit deinem neuen Reichtum als Stammesfürst etwas zu schnell zur Hand, den Ehrenpreis zu zahlen, wenn sich einer
von uns als Täter stellt. Damit hättest du dir ein Problem vom Halse geschafft. Ohne Fehl und Tadel wärst du aus der Sache
hervorgegangen. Man hätte dich als Stammesfürst bestätigt. Sollte man dich jedoch für schuldig befinden, Nechtan getötet zu
haben, wirst du sofort jedweden Amtes enthoben. Kein Wunder, dass du so eilfertig mir die Schuld zuschieben wolltest.«
Mit finsterer Miene stand Marbán vor ihnen. In ihren Augen war er der zu Verurteilende. Erregtes Gemurmel breitete sich aus.
Fidelma hatte ihre liebe Not, wieder Ruhe zu schaffen.
»Lassen wir den unnützen Streit. Marbán hat Nechtan nicht getötet.«
Überraschtes Schweigen.
»Wer war es dann?«, fragte Dathó verärgert. »Du treibst mit uns ein Katz-und-Maus-Spiel, Schwester. Wenn dir schon alles klar
ist, dann nenne uns den Täter.«
»Jeder an diesem Tisch weiß, dass Nechtan ein bösartiger, eigenwilliger Mensch war, der dem Leben nichts Gutes abgewinnen
konnte. Ebenso wie wir unseren Grund hatten, ihn zu hassen, hasste auch er jeden, mit dem er es zu tun hatte.«
»Trotzdem, wer hat ihn umgebracht?«, wiederholte nun Daolgar die alle bedrängende Frage.
»Er hat selbst Hand an sich gelegt«, eröffnete sie ihnen.
Betroffen und ungläubig blickten sie alle an.
|460| »Ich hatte schon etwas länger den Verdacht«, fuhr Fidelma fort, »aber ich konnte ihn nicht erhärten. Gerróc eben hat mir das
Rätsel entschlüsselt.«
»Das musst du uns erklären, Schwester, ich kann dir nicht folgen«, verlangte Marbán mürrisch.
»Ich habe ja schon darauf verwiesen, dass so, wie wir Nechtan hassten, er auch uns hasste. Als er erfuhr, dass sein Tod nahte,
entschloss er sich zu einem weiteren großen Racheakt an all denen, die er am wenigsten ausstehen konnte. Ein rasches Hinübergleiten
in die Anderswelt war ihm lieber als das qualvolle Ende, das ihm Gerróc ausgemalt hatte. Wenn es eines tapferen Mannes bedarf,
seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, dann muss man ihm zugestehen, dass er diese Tapferkeit besaß. Er entschied sich für
ein rasch wirkendes Gift, Realgar, und genoss die Schadenfreude, dass es eine Substanz war, die Cuill, der Mann seiner gegenwärtigen
Geliebten, bei seiner Arbeit benutzte.
Dann verfiel er auf die Idee, uns alle zu einem letzten Gastmahl einzuladen. Er setzte auf unsere Neugierde und Eigenliebe
und erklärte, er wolle sich vor allen dafür entschuldigen, dass er uns so übel mitgespielt habe. Er hatte alles sorgfältig
durchdacht. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, breitete er seine Schandtaten in allen Einzelheiten aus. Dabei ging es
ihm weniger darum, um Verzeihung zu bitten, vielmehr wollte er absichern, dass jeder von jedem wusste, dass alle, wie wir
da saßen, guten Grund hatten, ihn zu verabscheuen und lieber tot als lebendig zu sehen. Er bereitete den Nährboden für gegenseitiges
Misstrauen. Er rühmte sich eher seiner Missetaten, als dass er sich bei uns dafür entschuldigte. Er rühmte sich und warnte
zugleich.«
Ess stimmte ihr zu. »Ich empfand seine letzten Worte als merkwürdig, aber im Nachhinein ergeben sie einen Sinn.«
»Das sehe ich auch so«, meinte Fidelma.
|461| »Wie waren die Worte noch mal?«, fragte Daolgar.
»Er sagte: ›Und so erhebe ich meinen Becher und trinke auf euer aller Wohl, auf jeden Einzelnen von euch,
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