Der falsche Apostel
denn ich stehe bei
euch allen in der Schuld. Danach mögen Recht und Gesetz ihren Lauf nehmen; dem, was dann befunden wird, werde ich mich widerspruchslos
fügen. … Auf euer Wohl … Viel Spaß, wenn ihr über mich richtet.‹« Wortwörtlich hatte Fidelma Nechtans Worte wiedergegeben.
»Wie eine Entschuldigung klingt das nicht«, gab Marbán zu. »Aber was bezweckte er?«
»Jetzt ist es mir klar«, antwortete ihm Ess. »Siehst du immer noch nicht, wie bösartig dieser Mann war? Er wollte, dass jeder
von uns in Verdacht geriet, ihn ermordet zu haben. Er spielte seine Niedertracht bis zuletzt gegen uns aus.«
»Aber wie er das zu erreichen gedachte, sehe ich immer noch nicht«, bekannte Gerróc, völlig verwirrt.
»Im Wissen um seinen Tod, der ihn in wenigen Tagen oder Wochen ereilen würde, bestimmte er selbst seine Lebensfrist«, erläuterte
Fidelma geduldig. »Ess hat recht, er war ein bösartiger, niederträchtiger Mensch. Er lud uns zum Mahl und war entschlossen,
sich an dessen Ende zu vergiften. Zu Beginn des Essens befahl er seinem Bediensteten Ciar, Brehon Olcán, seinen Richter, holen
zu lassen. Er rechnete damit, dass Olcán uns im Aufruhr der Gemüter vorfinden würde, dass er Zeuge werden würde, wie wir uns
gegenseitig die Schuld zuwiesen. Er hoffte weiterhin, Olcán würde daraus die falsche Schlussfolgerung ziehen und glauben,
dass einer von uns, wenn nicht gar alle, in seine Ermordung verstrickt waren. Er beging Selbstmord, in der Hoffnung, wir würden
des Mordes an ihm bezichtigt werden. Noch während er zu uns sprach, tat er unauffällig das Gift in seinen Becher.«
Fidelma hatte verbitterte Gesichter vor sich. Sie selbst lächelte |462| mühsam. »Ich denke, wir können jetzt Brehon Olcán hereinbitten und ihm alles darlegen.«
Sie schritt zur Tür, blieb aber noch einmal stehen, wandte sich um und sagte abschließend: »Ich habe viele Verbrechen erlebt.
Manche geschahen aus Bosheit, andere aus Verzweiflung. Aber solch eine Durchtriebenheit und Niedertracht, wie sie in Nechtan,
dem einstigen Stammesfürsten der Múscraige, lauerten, sind mir bislang nicht vorgekommen.«
Am folgenden Morgen brach Fidelma nach Cashel auf. Wie immer war sie zu Pferde. Unterhalb des Burggeländes von Nechtan stieß
sie an einer Kreuzung auf Gerróc, den alten Arzt.
»Wohin des Wegs, Gerróc?«, grüßte sie ihn freundlich.
»Zum Kloster von Imleach«, erwiderte der Alte ernst. »Ich will beichten und für den Rest meiner Tage dort Zuflucht suchen.«
Sie sann kurz nach und gab dann die etwas rätselhafte Antwort: »Ich würde bei der Beichte nicht alles preisgeben.«
Der Alte runzelte die Stirn. »Du weißt?«
»Ich kann ein Geschwür von einem Gewächs unterscheiden.«
Er seufzte leicht.
»Anfangs wollte ich Nechtan nur einen Schrecken einjagen. Er sollte sich ruhig ein paar Wochen quälen, ehe ich den Furunkel
aufschnitt oder ehe er von allein aufbrach. Geschwüre hinter dem Ohr können äußerst schmerzhaft sein. Er glaubte mir, als
ich vorgab, es wäre ein Gewächs und er hätte nicht mehr lange zu leben. Wozu er in seiner Boshaftigkeit fähig wäre, habe ich
nicht geahnt, und schon gar nicht, dass er Selbstmord begehen würde, um uns alle ins Verderben zu stürzen.«
Sie schaute ihm in das verhärmte Gesicht. »Nun hat er selbst Blut an den Händen.«
|463| »Aber gegen das Gesetz kann ich nicht an. Ich muss Beichte ablegen.«
»Es gibt Fälle, da der Gerechtigkeit der Vorrang gebührt«, meinte sie heiter. »Nechtan hat Gerechtigkeit erfahren. Vergiss
das Gesetz, Gerróc. Gott sei mit dir, möge Er deinen Lebensabend in Frieden begleiten.«
Sie hob die Hand, als wollte sie ihm den Segen erteilen, wendete das Pferd und setzte ihren Weg fort.
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|464| DIE SICH AN UNS VERSÜNDIGEN
»Für mich ist die Angelegenheit klar. Ich kann nicht verstehen, weshalb der Abt dich extra hergeschickt hat.«
Pater Febal war gereizt und offensichtlich verstimmt über die Anwesenheit der Anwältin in seiner kleinen Kirche, besonders
da es sich bei ihr um die hübsche, rothaarige Nonne handelte, die ihm in der engen Sakristei gegenübersaß. Im Gegensatz zu
ihrer entspannten Haltung strahlte sein Verhalten Rastlosigkeit und Misstrauen aus. Er war ein kleiner Mann, der trotz beinahe
leichenhaft blasser Gesichtszüge dunkel wirkte. Der Ansatz seines Bartes, obwohl rasiert, bildete einen blauen Schatten auf
seinem Kinn und seinen Wangen, und sein Haar war so schwarz
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