Der falsche Apostel
so,
dass Sechnussach nicht in sein hohes Amt eingesetzt werden kann, weil das große Schwert, der ›Caladchalog‹, gestohlen wurde,
den der Schmiedegott Gobhainn in grauer Vorzeit geschaffen hat.«
|60| Erschreckt schaute Fidelma auf.
Das uralte Schwert des Stammes der Uí Néill war eines der wichtigsten Symbole der Würde des Hochkönigs. Der Legende nach hatte
der Schmiedegott es dem Helden Fergus Mac Roth zu Zeiten der Vorväter übergeben, dann war es an Niall von den Neun Geiseln
gegangen, dessen Nachkommen die Uí-Néill-Könige Irlands wurden. Seit vielen Jahrhunderten waren die Hochkönige entweder aus
dem Clan der nördlichen Uí Néill gewählt worden oder aus dem der südlichen Uí Néill. Der »Caladchalog«, der Schartenschläger,
galt als magisches, mystisches Schwert, und sein Besitzer wurde vom Volk als dessen rechtmäßiger Herrscher anerkannt. Alle
Hochkönige hatten darauf den Amtseid zu leisten und es bei sämtlichen bedeutenden Anlässen als sichtbares Zeichen ihrer Königswürde
zu tragen.
Der Abt schob die Unterlippe vor. »Gerade dieser Tage, da noch die Angst vor den verheerenden Folgen der Pest umgeht, braucht
unser Volk Trost und Ablenkung. Wenn es im Lande ruchbar wird, dass der neue Hochkönig nicht das Amtsschwert vorweisen kann,
auf das er den geheiligten Königseid zu schwören hat, werden im Volk Furcht und Schrecken um sich greifen. Man wird es als
ein böses Vorzeichen für die Herrschaft von Sechnussach ansehen. Gesetzlosigkeit wird sich ausbreiten. Unsere Leute beharren
auf den alten Sitten und Gebräuchen, und besonders gegenwärtig benötigen sie etwas, das ihnen Halt und Sicherheit gibt.«
Schwester Fidelma machte ein nachdenkliches Gesicht. Was der Abt da sagte, war gewiss richtig. Die Menschen glaubten felsenfest
an sinnstiftende Zeichen, die aus dem Nebel uralter Zeiten herrührten.
»Wenn die Menschen sich doch endlich auf ihre eigenen Fähigkeiten besinnen wollten und nicht an Symbolen hängen |61| würden«, äußerte sich der Abt weiter. »Die Zeit ist gekommen, Reformen einzuleiten, sowohl in weltlichen als auch in geistlichen
Dingen. Wir klammern uns zu sehr an die heidnischen Vorstellungen unserer Ahnen, die aus der Zeit stammen, bevor das Licht
Unseres Erlösers diese Küsten erreichte.«
»Wie ich sehe, machst du dir bereits die Reformen, die Rom anstrebt, zu eigen«, bemerkte Schwester Fidelma scharfsinnig.
Der Abt gab sich nicht sonderlich Mühe, seine Überraschung zu verbergen. »Woran willst du das erkannt haben?«
»Dazu bedarf es keiner besonderen Schläue, Abt Colmán. Man sieht es auf den ersten Blick«, erklärte sie lächelnd. »Du trägst
die Tonsur des heiligen Petrus, also das Abzeichen Roms, und nicht die des heiligen Johannes, den unsere Kirche zum Vorbild
hat.«
Der Abt zog ein Gesicht. »Ich bekenne, dass ich fünf Jahre lang in Rom war und dort eingesehen habe, dass Reformen unumgänglich
sind. Ich betrachte es als meine Pflicht, unserem Volk nahezulegen, den Sitten und Bräuchen der Kirche Roms zu folgen und
unsere veralteten Rituale, Symbole und Traditionen aufzugeben.«
»Wir haben es aber mit Menschen zu tun, wie sie sind, und nicht mit Menschen nach unseren Wunschvorstellungen.«
»Umso mehr müssen wir uns bemühen, sie zu ändern«, erwiderte der Abt salbungsvoll, »und ihre Schritte auf den wahren Pfad
zu Gottes Gnade lenken.«
»Lassen wir den Streit über die Reformen Roms«, sagte Schwester Fidelma ruhig. »Ich jedenfalls werde mich weiterhin nach der
Regel der heiligen Brigid von Kildare richten, in deren Abtei ich meine Gelübde abgelegt habe. Doch jetzt hätte ich gern gewusst,
wozu man mich nach Tara geholt hat?«
Der Abt zögerte mit seiner Antwort, als wäre er unschlüssig, das Thema der von Rom ausgehenden Reformen zu beenden, |62| schniefte dann aber laut und versuchte so seine Verärgerung zu überspielen. »Wir müssen das verschwundene Schwert vor der
Inauguration des Hochkönigs finden, und die ist für morgen angesetzt. Sonst laufen wir Gefahr, einen Bürgerkrieg unter den
fünf Königreichen Irlands zu entfesseln.«
»Von wo wurde es gestohlen?«
»Von hier, aus eben dieser Kapelle. Das heilige Schwert befand sich zusammen mit dem
Lia Fáil
, dem Stein des Schicksals, unter dem Altar. Es war in einer Holztruhe mit Metallbeschlägen eingeschlossen. Der einzige Schlüssel
lag immer für jedermann sichtbar auf dem Altar. Niemand würde es je wagen, so dachte
Weitere Kostenlose Bücher