Der falsche Apostel
Siedend heiß ging ihr auf, wie sehr sie sich zum Narren gemacht hatte. Dieser Umstand
hätte ihr längst ins Auge springen müssen. »Bitte zeige mir diesen Gang.«
»Ich werde einen der Brüder rufen, der kann ihn dir zeigen. Ich bin mit den Vorbereitungen für die Amtseinführung beschäftigt.«
Abt Colmán streckte die Hand nach einer Silberglocke aus, die auf dem Tisch stand, und klingelte.
Fast unmittelbar darauf kam ein Mann mit einem Mondgesicht herein. Er trug die braune Kutte des Ordens der Abtei und hielt
die Arme in den weiten Ärmeln des Habits verborgen. Sein Atem roch so stark nach Knoblauch, dass Fidelma schon von weitem
der scharfe Geruch in die Nase stieg.
»Das ist Bruder Rogallach«, sagte der Abt und wies mit der Hand auf ihn. »Rogallach, ich möchte, dass du Schwester Fidelma
den Gang zur Kapelle zeigst.« Er blickte wieder zu Fidelma hin und hob fragend die Augenbrauen. »Es sei denn, es liegt dir
noch etwas anderes am Herzen …?«
»Nein, danke, nichts weiter«, erwiderte sie ruhig. »Gegen wärtig jedenfalls nicht.«
In einem der Gänge der Abtei blieb Bruder Rogallach stehen, nahm eine Kerze und zündete sie an. Dann zog er einen Wandbehang
zur Seite, der eine Öffnung verdeckt hatte. Steinstufen führten nach unten.
»Gelangt man nur von hier in den unterirdischen Gang zur Kapelle?«, fragte Schwester Fidelma.
|79| Bruder Rogallach nickte. »Ja, nur von hier.« Diese junge Frau verunsicherte ihn, überall in der Abtei wurde über ihren Rang
getuschelt und weswegen sie hier war.
»Wer alles kennt diesen Zugang?«, hakte sie nach.
»Eigentlich jeder in der Abtei. Wir nutzen ihn bei schlechtem Wetter, um trockenen Fußes zum Gottesdienst zu gelangen.« Der
Mönch öffnete den Mund zu einem treuherzigen Lächeln, wobei seine schadhaften, schwärzlichen Zähne sichtbar wurden.
»Wissen auch Leute davon, die nicht in der Abtei leben?«
»Das ist überhaupt kein Geheimnis, Schwester. Jeder, der eine Weile in Tara gewesen ist, kennt ihn.«
»Demnach hat auch Ailill gewusst, dass so ein Gang existiert?«
»Selbstverständlich.« Bruder Rogallach bekräftigte das mit einer Handbewegung.
»Dann geh voran, Bruder Rogallach«, forderte ihn Fidelma auf und war froh, dass der Mönch vor ihr ging und sie seinem widerlichen
Mundgeruch nicht unmittelbar ausgesetzt war.
Der Bruder mit dem Mondgesicht stieg die Stufen hinab und lief vorneweg. Es roch muffig, doch der mit Steinplatten ausgelegte
Pfad war trocken. Der durch das Gestein geschlagene Stollen wand sich mehrfach und hatte an den Seiten etliche Ausbuchtungen;
in manchen standen Möbelstücke. An der ersten Nische blieb Fidelma stehen und bat Rogallach, sie mit der Kerze auszuleuchten.
Das Verfahren setzte sie an jeder der folgenden Grotten fort.
»Die Nischen sind tief genug als Versteck für eine Person, erst recht, um darin ein Schwert zu verbergen«, überlegte sie laut.
»Ist auch hier nach dem Schwert gesucht worden?«
Der Klosterbruder nickte eifrig und trat näher an Schwester Fidelma heran, die unwillkürlich vor seinem Atem einen |80| Schritt zurückwich. »Natürlich, ich war mit in dem Suchtrupp. Nachdem die Kapelle abgesucht worden war, bot sich ja der Gang
hier als nächstes mögliches Versteck an.«
Trotzdem ließ Fidelma den Mönch an jeder Grotte anhalten, und im Schein seiner Kerze lugte sie in jeden Winkel. Bei einer
Ausbuchtung stutzte sie und griff nach einem Fetzen Stoff, der an einer vorstehenden Holzkante hängengeblieben war. Der Stoff
war auffallend gefärbt und stammte gewiss nicht aus dem nüchternen braunen Habit der Klosterleute, schien eher ein Stück aus
einem prächtig gewebten Umhang zu sein. Tuch dieser Art konnte nur jemand tragen, der reich und mächtig war.
Es dauerte eine Weile, bis sie den Gang abgeschritten hatten und ein paar Stufen zu einer Wandverkleidung hochgestiegen waren,
hinter der sich die Sakristei befand. Von dort lief Fidelma sofort durch die Kapelle zum Portal. Irgendetwas hatte ihr schon
die ganze Zeit keine Ruhe gelassen. Nun, da sie wusste, es gibt einen unterirdischen Zugang zur Kapelle, ging ihr auf, was
sie stutzig gemacht hatte.
»Die Kapellentür wird immer von innen verriegelt, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Rogallach.
»Wenn du also trotzdem in die Kapelle hineinwolltest, was würdest du da machen?«
Wieder lächelte Rogallach und gab einen unsichtbaren Schwaden Knoblauchgeruch von sich. »Na ganz einfach, ich würde
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