Der falsche Apostel
dass es noch einen weiteren Zugang gibt.«
»Selbstverständlich weiß das ein jeder in Tara«, bekräftigte Sechnussach.
»O ja«, entgegnete Fidelma und lächelte, »vermutlich hat |86| man sich gedacht, ich würde irgendwann von selbst dahinter kommen.«
»Aber der wesentliche Punkt ist doch, dass die Türverriegelung gewaltsam aufgebrochen wurde«, mischte sich Abt Colmán gereizt
ein.
»Richtig. Nur nicht von außen«, erwiderte Schwester Fidelma. »Wiederum muss ich gestehen, ich hatte meine Gedanken nicht recht
beisammen, sonst hätte ich es sofort erkannt. Bricht man eine verriegelte Tür auf, dann wird die Eisenkrampe, hinter die der
Riegel greift, aus dem Türpfosten gerissen. Bei der Kapellentür aber wurde der Riegel aus seinen Halterungen auf den Türbeschlägen
getrieben, sodass das Holz splitterte.«
Einen Augenblick lang schaute sie in die Gesichter, die sie verständnislos anstarrten.
»Was da vor sich gegangen ist, war eigentlich ganz einfach. Der Täter hatte die Kapelle durch den unterirdischen Gang betreten,
hatte sich den Schlüssel gegriffen, den Altartisch beiseitegeschoben und die Truhe geöffnet. Das Schwert wurde herausgenommen
und in ein Versteck geschafft. Dann war der Schuldige zurückgekommen und hatte den Schauplatz nach seinen Vorstellungen hergerichtet.
Er hatte sich vergewissert, dass die Wächter außer Hörweite waren, hatte die Tür geöffnet und dann einen Stein gepackt und
damit auf den Riegel eingedroschen. Anstatt die Krampe aus dem Türpfosten zu schlagen, wurde der Riegel auf dem Türblatt lädiert.
Diese Spur war derart deutlich, dass ich sie zunächst übersah. Ich hatte nur den verbogenen Riegel im Blick.«
Ornait lächelte unter Tränen. »Ich wusste doch, Ailill kann den Frevel nicht begangen haben. Der wirklich Schuldige hat alles
so eingerichtet, dass Ailill die Tat angelastet wird. Deinen Ruf, schwierigste Rätsel lösen zu können, hast du dir zu Recht
erworben, Schwester Fidelma.«
|87| Die so Gelobte hatte dafür nur ein Schmunzeln übrig. »Es bedurfte keiner besonderen Begabung, um aus den Umständen zu schließen,
dass Ailill Flann Esa das Schwert nicht so wie angenommen gestohlen haben konnte.«
Der bislang Beschuldigte fuhr Schwester Fidelma an: »Wer ist denn nun der Täter?«
Sie überhörte seine Frage. »Wem hätte die Tat nutzen können? Abt Colmán ist ein eifriger Verfechter Roms. Er hätte seine Absichten
durchsetzen können, wenn Sechnussach beseitigt würde. Und Abt Colmán war zur rechten Zeit an der richtigen Stelle. Er hätte
die Gelegenheit gehabt, die Tat zu vollbringen.«
»Das ist ja ungeheuerlich!«, brauste der Abt auf. »Mich ungerechterweise zu beschuldigen! Ich bin dein Vorgesetzter, Fidelma
von Kildare. Ich bin der Abt von Tara und …«
Fidelma krauste die Lippen. »Du brauchst mich nicht an deine Stellung in der Kirche zu erinnern, Abt Colmán«, erwiderte sie
ruhig. »Ich darf dich aber daran erinnern, dass ich hier als Anwalt des hohen Gerichts der Brehons spreche und dass du selbst
mich gerade deswegen hierhergerufen hast.«
Der Abt wurde rot. Einen Moment später brachte er beherrscht heraus: »Dass ich die Absichten Roms billige, habe ich nie verheimlicht,
jetzt aber zu vermuten, ich hätte mich zu so einer Handlungsweise hergegeben …«
Schwester Fidelma hob die Hand und gebot seinem Redefluss Einhalt.
»Immerhin wäre Ailill Colmáns natürlicher Verbündeter. Falls Colmán das Schwert entwendet hat, warum sollte er dann Ailill
beschuldigen und damit vielleicht alle diskreditieren, die für die Sache Roms eintreten? Eigentlich hätte er doch alles ihm
Mögliche tun müssen, Ailill beizustehen, damit der als
tánaiste
, |88| als Thronfolger, sofort Anspruch auf den Herrschersitz geltend machen kann, sollten Unruhen ausbrechen, weil Sechnussach das
heilige Schwert nicht vorweisen kann.«
»Was bringst du da vor?«, fragte Sechnussach, der Mühe hatte, Fidelmas Beweisführung zu folgen.
Sie blickte ihn mit ihren grünen Augen unverwandt an und erklärte ohne jede Hast: »In diesem Gespinst politischer Intrigen
gibt es noch einen anderen Faktor, nämlich Cernach Mac Diarmuid. Sein Name wurde mir mehrfach genannt, und stets wurde betont,
er sei ein glühender Anhänger Roms.«
Der junge Mann, der bislang unbeteiligt dagestanden und nur die Stirn gerunzelt hatte, schreckte auf. Eine Hand tastete an
seine Seite, als suche er eine Waffe. Doch niemandem, ausgenommen die
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