Der falsche Apostel
Man spricht davon, sie hätte mit dir eine Wette abgeschlossen über etwas, was sie auf
der Insel ausfindig machen würde.«
Müde verzog Artagán das Gesicht.
»Es war eine sinnlose Jagd, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Ich war mit meiner Wette auf der sicheren Seite.«
»Vielleicht kannst du mir das näher erklären«, verlangte Fidelma, die seine Antwort verdutzte.
»Äbtissin Cuimne war eine starke Persönlichkeit. Das war nicht weiter verwunderlich, schließlich ist sie … war sie die Schwester
des Hochkönigs. Sie verfügte über mannigfaltige Talente. Nicht umsonst hat der Erzbischof von Armagh sie als seine persönliche
Gesandte ernannt. Als solche sollte sie in den Klöstern und Kirchen von Éireann einheitliche Regeln für die Feier der heiligen
Messe durchsetzen. Ich bin ihr nur zwei Mal begegnet. Einmal auf der Synode zu Cashel und dann jetzt, als sie hier blieb,
bevor sie auf die Insel übersetzte. Sie vertrat Ansichten, die es einem schwermachten, mit ihr darüber zu debattieren.«
»Wie meinst du das?«
|149| »Hast du schon mal von der Legende vom Reliquiar des heiligen Palladius gehört?«
»Erzähl«, forderte sie ihn auf und überspielte so ihre Verwirrung.
»Wie du weißt, war vor zweieinhalb Jahrhunderten die christliche Gemeinde in Éireann sehr klein und vergrößerte sich nach
dem Willen Gottes, als die Menschen sich dem Wort Christi zuwandten. Damals hatten sie zahlenmäßig so zugenommen, dass sie
Vertreter in die heilige Stadt Rom schickten, um Papst Coelestin, den ersten des Namens, der auf dem Thron von Peter, dem
Jünger Christi, saß, zu bitten, ihnen einen Bischof zu senden. Sie wollten jemand haben, der sie unterweisen würde, wie man
den Vorstellungen des Lebendigen Gottes richtig folgen könnte. Coelestin ernannte einen Mann namens Palladius als den ersten
Bischof für die Iren, die sich zu Christus bekannten.«
Artagán machte eine Pause, ehe er fortfuhr.
»Es gibt zwei Versionen der Geschichte. In der ersten heißt es, Palladius wäre auf dem Weg nach Éireann in Gallien erkrankt
und dort gestorben. In der zweiten erreichte Palladius unsere Ufer und unterwies auch die Iren, wurde dann aber von einem
erzürnten Druiden, der in den Diensten des Königs von Iarmuma stand, hinterrücks ermordet.«
»Beide Versionen sind mir bekannt«, meinte Schwester Fidelma. »Nach Palladius’ Tod wurde der heilige Patrick, der damals in
Gallien studierte, zum Bischof in Irland ernannt und kehrte somit in das Land zurück, in dem man ihn einst als Geisel festgehalten
hatte.«
»Du hast vollkommen recht«, stimmte ihr Artagán zu. »In den Jahren nach Palladius’ Tod entstand dann eine Legende: Die sterblichen
Überreste des Heiligen kamen in ein Reliquiar, in ein Kästchen mit einem dachähnlichen Deckel von etwa |150| sechs Zoll Länge, vier Zoll Breite und zwei Zoll Höhe. Solche Reliquiare sind meist aus Holz, oft Eibe, innen mit Blei ausgekleidet
und außen vergoldet und reich verziert mit einer Kupferlegierung, Blattgold, Bernstein und Glasperlen. Wunderschön gefertigte
Stücke.«
Schwester Fidelma nickte, wenngleich eher ungeduldig. In den großen Abteien von Éireann hatte sie mehr als genug solcher kostbaren
Arbeiten gesehen.
»Der Legende nach wurden ursprünglich die sterblichen Überreste von Palladius in Cashel aufbewahrt, dem Sitz der Eóghanacht-Könige
von Munster. Vor etwa zweihundert Jahren kam es dann zu einer Wiederbelebung der Glaubensauffassungen der Druiden in Iarmuma.
Der König von Iarmuma griff die alte Religion auf, und es begann eine unbarmherzige Verfolgung der christlichen Gemeinden.
Cashel wurde gestürmt, doch die Reliquie wurde aufs Land in Sicherheit gebracht. Man schickte sie von Ort zu Ort, bis die
sterblichen Überreste unseres ersten Bischofs schließlich auf die Inseln geschafft wurden, um sie vor dem wütenden Treiben
zu bewahren. Dort verschwanden sie dann.«
»Erzähl weiter«, drängte ihn Fidelma, als er schwieg.
»Überleg mal selbst. Was für ein Aufsehen würde es erregen, wenn wir nach all den Jahren die sterblichen Überreste des ersten
Bischofs von Éireann entdeckten! Der Ort, an dem sie angeblich ruhen, würde zu einem einzigartigen Wallfahrtsort werden, man
würde eine prächtige Abtei dort errichten, die die Menschen aus aller Welt anziehen würde …«
»Willst du damit sagen, Äbtissin Cuimne hätte sich zur Insel aufgemacht, um das Reliquiar des Palladius zu
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