Der falsche Apostel
dass es nicht nur eine Person war,
die zwei Yard von dem Fleck, an dem sie jetzt stand, den Pfad verlassen hatte und hier am äußersten Klippenrand stehen geblieben
war. Daraus wiederum ergab sich ein anderer, weit wichtigerer Punkt: Wenn Äbtissin Cuimne dem Trampelpfad gefolgt war, der,
wie gesagt, keine zwei Yard weiter verlief, konnte man sich schwerlich vorstellen, dass sie rein zufällig ausgerechnet an
dieser Stelle abgestürzt sein sollte. Wenn sie hier den Halt verloren hatte, dann nur, weil sie bewusst vom Weg abgewichen,
über Stechginster oder anderes Gestrüpp gestolpert und folglich gestürzt war. Sollte es aber kein Unglücksfall gewesen sein,
was konnte sich sonst abgespielt haben?
Was den Klippenrand betraf, so ließ Fidelma noch ein anderer Gedanke keine Ruhe. Nur wollte sie sich nicht zu weit vorwagen,
um selbst drüberzuschauen, denn sie schreckte vor freien Höhen ohne Geländer zurück.
»Kommt man hier irgendwie anders herunter?«, fragte sie Corcrain.
»Da müsste man schon eine Bergziege sein. Nein, es wäre viel zu gefährlich. Nicht dass ich damit sagen will, es wäre völlig
unmöglich, hinunterzugelangen. Wer ein guter Kletterer ist und Erfahrung mit solchen unzugänglichen Stellen hat, könnte den
Versuch wagen. Auf der Vorderseite des Abhangs gibt es etliche Höhlengebilde; vor einiger Zeit waren schon mal Leute vom Festland
hier und wollten sie erforschen.«
»Von hier aus?«
»Nein. Etwa dreihundert Yard weiter vorn. Aber der
bó-aire
|144| hat es nicht zugelassen, weil er meinte, es wäre zu gefährlich. Das war vergangenes Jahr.«
Fidelma streifte ihren wollenen Umhang von den Schultern, der sie vor dem feuchtkalten Niederschlag aus den grauen Wolken
schützen sollte, und breitete ihn vor sich zum Klippenrand hin aus. Dann ließ sie sich auf die Knie nieder, streckte sich
aus dieser Position bäuchlings hin und robbte vor an den Rand, um vorsichtig hinunterzuspähen. Es war, wie der Apotheker gesagt
hatte, nur ein geübter Kletterer oder eine Bergziege würden von dieser Stelle einen Abstieg gewagt haben. Ein Schauder überkam
sie, als sie auf den felsigen Ufergrund dreihundert Fuß unter sich starrte.
Sie stand wieder auf, strich den Umhang glatt und fragte Corcrain: »Wo finde ich diesen Congal?«
Congal war ein großer Mann. Er hatte einen Teller mit einer riesigen Portion Fisch und einem gekochten Entenei vor sich. Obwohl
er am Tisch saß und speiste, steckte er in seiner Fischerkluft; er hielt es nicht für nötig, die Sachen abzulegen, wenn er
seinen
bothán
betrat. Sein massiger Körperbau wurde durch diese Ausstaffierung zusätzlich betont. Seine schwieligen Hände glichen Pranken.
»Eine traurige Geschichte«, stimmte er Schwester Fidelma zu, die ihm gegenüber an dem sauber gescheuerten Tisch aus Kiefernholz
saß. Sie tat sich an einer Schale süßen Mets gütlich, die er ihr als Geste der Gastfreundschaft angeboten hatte. »Die Frau
hatte noch eine gute Lebensspanne vor sich, aber wenn man sich nicht mit dem felsigen Grund auskennt, sollte man dort besser
nicht spazierengehen.«
»Soviel ich weiß, betrieb sie hier irgendwelche Nachforschungen.«
Er runzelte die Stirn.
|145| »Nachforschungen?«
»Sie soll auch mit dir mehrfach gesprochen haben.«
»Kein Wunder, dass sie das tat. Bin schließlich der
seanchafí
hier. Kenne sämtliche Legenden und Geschichten der Insel«, erklärte er nicht ohne Stolz. Kein Inselbewohner, der sich nicht
stolz und selbstbewusst gab, fand Fidelma. Sie hatten ja auch sonst nichts, also verwiesen sie auf das wenige, dessen sie
sich rühmen konnten.
»Geschichten aus alten Zeiten? Zeigte sie dafür eine Vorliebe?«
»Ich würde sagen, ja.«
»Ging es ihr dabei um ein besonderes Thema oder eine besondere Geschichte?«
Unschlüssig wiegte er den Oberkörper hin und her.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Was wollte sie hören?«
»Och, einfach Geschichten aus vergangenen Zeiten, als die Druiden von Iarmuma auf die Priester Christi Jagd machten und sie
töteten. Und das ist ja schon ewig her, trug sich zu, noch bevor der heilige Patrick an unsere Ufer kam.«
»Und du hast ihr ein paar Geschichten erzählt?«
Er nickte. »In den heidnischen Zeiten fanden viele Priester Christi auf dieser Insel eine Zuflucht. Als die Mannen des Königs
von Iarmuma die Kirchen und Gemeinden niederbrannten, flohen sie hierher.«
Die Auskunft half Schwester Fidelma nicht weiter. Sie konnte sich
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