Der falsche Auserwählte (Ein Artesian Roman) (German Edition)

unruhig durch die enge Kabine. Was tat ein Magier, was tat Alep, wenn er etwas beleben wollte? Er rief die Magie einfach herbei, verstärkte sie mit einem Fokus und beschleunigte den Zauber durch Verse. Kwin aber konnte die Magie nicht lenken, weil er keinen Zugang zu ihr hatte. Eichenherz hatte ihm erklärt, dass er das magische Potential, das im Holz vorhanden war, veranlasste, sich auszubreiten. Es war mehr ein Überreden als aktive Beeinflussung. Die Lieder, die er dabei sang, dienten dazu, eine Verbindung zwischen dem Element Erde und dem Zweig herzustellen. Sein eigener Anteil daran war viel geringer als der eines Magiers. Doch eine Ähnlichkeit gab es, die ihn mit einem Magier, verband: seine Lieder und dessen Verse. Es musste doch möglich sein ...
    Kwin eilte zum Tisch zurück, brach einen weiteres Stück vom Rosenzweig ab und legte es auf den Boden. Er kniete sich davor und sang das selbe Lied noch einmal. Diesmal aber schloss er nicht seine Augen, sondern beobachtete den Zweig. Als dieser sich zu regen begann, verstummte Kwin sofort. Das Holzstückchen lag ruhig und schien unverändert. Kwin erhob seine Stimme von neuem und bald bildete sich ein grüner Trieb.
    Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete die restlichen Zweige auf dem Tisch. Dann wandte er sich an Twist und sagte: „Ich habe es herausgebracht. Endlich!“ Der Wolfshund erwiderte ungerührt Kwins Blick.
    Kwin löste den Rosenstrauch von der Tischplatte und lehnte ihn vorsichtig gegen die Wand. Er kehrte zum Tisch zurück, öffnete nacheinander jeden der insgesamt fünf Lederbeutel und legte einen handverlesenen Teil des Inhaltes vor sich hin. Er begann mit den Blättern des Efeus, dann folgten weitere Rosenzweige, Distelgewächse und zuletzt der mit vielen verzweigten Dornen ausgestattete Stechginster. Bald waren die Lederbeutel mit vorbereiteten Blättern, Zweigen und Früchten gefüllt.
     
    Wigget zog einsam seine Kreise hoch über dem Schiff.
    Alles ruhig? fragte Alep.
    Alles ruhig, Magier, bestätigte Wigget. Kein feindliches Schiff in Sicht und auch keine geflügelten Ungeheuer. Wollt Ihr mir nicht Gesellschaft leisten?
    Nein. Ich will sehen, was Kwin solange unter Deck macht. Er sagte, er bereitet eine kleine Überraschung für Pretorius vor. Und nenn mich nicht Magier.
    Aber es ist kalt hier oben, maulte Wigget. Schickt jemanden herauf, der an meiner Stelle wacht.
    Ich glaube nicht, dass ich jemanden finden werde. Schließlich bist du der Einzige mit Flügeln.
    Dann frage ich Euch noch einmal, Magier: Wollt Ihr mir nicht Gesellschaft leisten?
    Nein!
    Alep verließ das Deck und stieg die schmale Treppe hinab. Sein Weg zur Kapitänskabine führte ihn an N’Guchas Schlafraum vorbei. Er passierte ihre Tür, zögerte, drehte um und wollte gerade anklopfen, als sich nebenan eine Tür öffnete und Kwin aus einer Kabine trat. In der Hand hielt er einen Rosenstrauch. Alep betrachtete seinen Freund verwundert. „Ist das die Überraschung, von der du gesprochen hast?“, fragte er.
    Kwin lachte: „Nein, nur das Ergebnis eines gescheiterten Versuches. Was tust du hier?“
    „Ich war auf dem Weg zu dir, als mir etwas einfiel, das ich N’Gucha fragen wollte. Aber es hat sich erledigt.“
    „Aha.“ Kwin nickte und ein breites Grinsen erschien in seinem Gesicht. Er hielt Alep den Rosenstrauch hin. „Dann hast du hierfür vielleicht Verwendung?“
    „Ich? Nein! Weshalb denn?“ fragte Alep und bedachte Kwin mit einem argwöhnischen Blick.
    „Es wäre aber doch Schade, die Pflanze über Bord zu werfen, nur weil niemand etwas damit anfangen kann, oder?“
    Alep zuckte die Schultern. „Du kannst sie für Wigget aufheben, als Geschenk für seine Liebste.“
    „Wo ist er?“, fragte Kwin.
    „Hoch in der Luft und bewacht das ...“ Alep trat näher an Kwin heran und betrachtete die Pflanze. „Wenn ich es mir recht überlege, könnte ich vielleicht doch ein, zwei Zweige gebrauchen. Darf ich?“
    „Sicher! Such dir nur die schönsten aus“, sagte Kwin bereitwillig.
    Alep packte kurzerhand zu, brach einen Zweig ab, entfernte alle Dornen, kleineren Äste und zuletzt die Blätter und Blüten.
    „Warum hast du das getan?“, fragte Kwin verärgert.
    Alep betrachtete seinen Freund lächelnd. „Ich schenke sie Wigget. Pass nur auf!“ Er sammelte alle Blätter wieder ein, rupfte noch ein paar mehr vom Strauch ab, kehrte zurück an Deck und ging zum Bug. Kwin folgte ihm dichtauf. Alep brach die Zweige in ungleiche Stücke und wählte zwei aus.