Der falsche Engel
Ganze war von A bis Z inszeniert gewesen. Auch seinen eigenen Tuberkulosetod im Krankenhaus von Archangelsk
hatte Michejew inszeniert: Er hatte den Arzt bestochen und galt nun auf dem Papier als Toter.
Jemand rüttelte heftig an der Tür.
»Besetzt!«, brüllte Stas auf Russisch, besann sich jedoch sofort und sagte etwas ruhiger auf Englisch: »Occupied!«
Er klappte den Toilettendeckel herunter, setzte sich darauf und knöpfte sein Hemd auf. Seine Hände zitterten heftig. Als er
sich endlich ausgezogen hatte, warf er die Hose auf den Toilettendeckel, und der Schlüssel für den Opel auf dem Parkplatz
fiel heraus. Zusammen mit einem Stück Papier. Er hob es auf, entfaltete es, und ihm wurde schwarz vor Augen.
»Gerassimow, du dummer Affe, du wirst zum Staatsanwalt gehen und ein Geständnis ablegen, schriftlich, wie es sich gehört.
Man wird dir glauben, denn es gibt einen Zeugen.«
Ein kariertes Blatt aus einem Notizbuch. Eine große, klare Handschrift. Lila Tinte. Keine Unterschrift.
»Verrückter Bastard!«, stöhnte Stas laut und klagend.
Auf dem Weg zum Parkplatz und anschließend auf der Chaussee schrie er jedes Mal leise auf, wenn er einen blonden Frauenkopf
sah. Dreimal wäre er beinahe aufgefahren. Schweißnass, totenbleich und zitternd erreichte er die Villa.
Nikolai erwartete ihn in einem Sessel im Wohnzimmer vorm Fernseher. Stas ging wortlos zur Bar, griff nach einer Flasche Whisky,
trank ein paar Schlucke daraus, schaltete den Fernseher ab, stellte sich vor Nikolai und sagte langsam und ruhig: »Du und
meine Eltern, ihr haltet mich für verrückt, nicht? Aber ich bin völlig okay, Nikolai. Ich will, dass du das begreifst. Ich
bin kein Irrer, obwohl das kein Wunder wäre. Das Mädchen auf dem Flufhafen war keine Französin. Sie hat in dem Tankwagen gesessen.
Sie hat sich in Moskau mit mir getroffen und mich zu meinem ehemaligen Kommilitonen Michejew geschickt. Das habe ich nicht
geträumt. Er ist nicht tot, Kolja. Er ist raus aus dem Lager und will, dass ich den Mord gestehe, den er vor fünfzehn Jahren
begangen hat. Hier, sieh dir das an. Das hat dieses Miststück mir in die Tasche geschoben. Lies, Kolja!«
Nikolai nahm ihm das vierfach zusammengelegte Blatt Papier aus der Hand, entfaltete es und sah Stas mitleidig an.
Das Blatt war leer.
Kaum hatte Sergej den Hörer angehoben, um Raiski anzurufen, als Evelina aus dem Bad kam und sich wieder an seinen Hals hängte.
»Wen rufst du an, mein Sonnenschein?«, fragte sie und presste ihre Lippen auf sein Ohr.
»Ich will dir ein Taxi rufen«, antwortete er und sah sich nach einem Telefonbuch um.
»Du schmeißt mich raus, ja?« Sie nahm ihm den Hörer aus der Hand und legte ihn auf.
»Lina, beruhige dich endlich.« Er verzog das Gesicht. »Meine Eltern kommen heute Nacht zurück. Vater ist krank. Ich muss sie
abholen.«
»Schon gut, Gerassimow, keinen Stress. Ich zieh mich gleich an, koche Kaffee, und dann fahre ich.«
Sie ließ sich aufs Sofa fallen und schlug die Beine übereinander. Sie trug den weißen Frotteemantel von Stas und nichts darunter.
»Du kannst dich nicht ans Steuer setzen«, seufzte Sergej und wandte sich von ihrer Nacktheit ab. »Lass mich lieber ein Taxi
rufen.«
»Ist doch nicht das erste Mal. Hör mal, Stas, warum reagierst du gar nicht auf meine Neuigkeit? Ich hab rausgefunden, wer
da hinter dir her ist, und dir ist das scheißegal?«
Sergej schaltete den Wasserkessel ein und öffnete ein Päckchen gemahlenen Kaffee. »Glaubst du etwa nicht, dass dein Michejew
noch lebt?«
»Glaubst du es denn? Du hast doch selbst gesagt, Maso war ziemlich betrunken.«
»Ich finde, du solltest dich mal mit Pjotr treffen. Ich kannmir sehr gut vorstellen, wie du diesem Mädchen nachgerannt bist. Und wenn Michejew sie deinetwegen aus Eifersucht getötet
hat, ist durchaus denkbar, dass er sich jetzt rächen will.«
»Das ist kein ausreichender Grund für eine so raffinierte Rache«, widersprach Sergej leise. »Mascha Demidowa war das hübscheste
Mädchen am ganzen Institut, nicht nur in unserem Studienjahr. Viele waren in sie verliebt, viele sind ihr nachgelaufen. Sie
hat es verstanden, den Männern den Kopf zu verdrehen. Selbst wenn Maso sich nicht geirrt hat – ein Kriminellenboss würde kaum
ein solches Risiko eingehen. Erst die Sprengladung, dann der Mord an dem Chauffeur. Nein, Lina, um sich auf so etwas einzulassen,
braucht er gewichtigere Gründe.«
»Du vergisst ein kleines Detail«,
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