Der falsche Engel
presste ihren Kopf an seine Schulter, damit sie die Stimme im Hörer nicht
hörte.
»Beruhigen Sie sich. Sie kommen allein«, sagte Raiski. »Rufen Sie mich an, sobald sie weg ist.«
»Unbedingt.«
»Und kommen Sie nicht auf die Idee, mit ihr ins Bett zu gehen, hören Sie, Major? Sie würden im Handumdrehen auffliegen, und
alles wäre zum Teufel.«
»Auf Wiederhören.«
Er legte auf, schob Evelina sanft von sich, verzog das Gesicht und fragte heiser: »Lina, weißt du vielleicht, wo meine Medikamente
liegen? Ich brauche dringend was gegen Schmerzen. Mir brummt der Schädel, und mir ist übel.«
»Ja, du bist ganz blass.« Sie nickte und rutschte endlich von seinem Schoß. »Ich hole dir gleich was. Damit du Bescheid weißt,
dein Medizinschränkchen ist im Bad. Du solltest noch mal schlafen, bevor du zum Flughafen fährst.«
Sie brachte ihm Analgin, er nahm zwei Tabletten und verabschiedete Lina. Sobald er die Tür hinter ihr geschlossen hatte, eilte
er zum Telefon, um Raiski anzurufen, doch es war besetzt. Er entschied, dass eine halbe Stunde nicht von Belang war, ging
ins Bad und legte sich zum ersten Mal im Leben in eine runde Whirlwanne.
Über ihm schimmerte bläuliches Licht. Das Wasser brodelte und schäumte sanft, und als er zufällig einen Knopf am Wannenrand
drückte, ertönte leise Musik. Ihm fielen die Augen zu. Bald schlief er so fest, dass er das anhaltende Telefonklingeln nicht
hörte.
Er träumte wieder von Julia, sie liefen zusammen durch eine fremde Stadt, die Häuser rechts und links waren Pappkulissen,
hinter denen schwarze, endlose Leere verborgen war. Doch er selbst war in diesem Traum echt, er hatte sein früheres Gesicht.
Er erwachte erst um halb zwei in der Nacht. Bis zu der Begegnung mit den Eltern von Stas blieben keine zwei Stunden mehr.
»Wir müssen uns sehen«, sagte Raiski knapp, nachdem er sich Julias aufgeregten Bericht angehört hatte. »Können Sie heute Abend
aus dem Haus, so gegen neun?«
»Und was erzähle ich Schura?«
»Sagen Sie, man hätte Sie aus der Klinik angerufen und zu einer dringenden Konsultation gebeten. Für den Anruf kann ich sorgen.«
»Ich habe Angst, sie allein zu Hause zu lassen.«
»Nun hören Sie aber auf! Meine Leute bewachen Ihr Haus rund um die Uhr, und Ihre Wohnungstür ist aus Stahl. Überhaupt, Julia,
Sie sind selber schuld. Sie hätten Ihrem Kind längst beibringen müssen, dass man nicht zu fremden Männern ins Auto steigt.«
Julia spürte die Gereiztheit in seiner Stimme und mutmaßte, dass er die Kontrolle über die Situation verloren hatte. Darum
war er so wütend. Er als FSB-Oberst mit seinem gewaltigen Agentenstab, seinem riesigen Apparat und seinen umfassenden Vollmachten
war nun schon so lange hinter diesem Terroristen her und konnte ihn einfach nicht fassen.
Sie trafen sich in einem kleinen Kellerlokal in der Nähe der Klinik. Raiski saß bereits wartend an einem Tisch; seine Brillengläser
blitzten im Halbdunkel.
»Erklären Sie mir bitte eins: Warum macht dieser Bandit, was er will, und Sie machen mich und mein Kind für Ihre Versäumnisse
verantwortlich?«, fragte sie und setzte sich zu ihm.
»Guten Tag, Julia. Was möchten Sie essen?« Er lächelte, nahm die Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. »Das am Spieß gegrillte
Schweinesteak ist hier nicht schlecht, das kann ich sehr empfehlen.«
»Danke. Ich esse so spätabends kein Fleisch«, erwiderte Julia ärgerlich und griff nach ihren Zigaretten. »Und überhaupt bin
ich nicht zum Essen hier, sondern um Ihre Erklärungen zu hören.«
»Nun, dann empfehle ich Ihnen das Lachssteak.« Raiski ließ sein Feuerzeug aufschnappen. »Ich bin ehrlich gesagt furchtbar
hungrig und werde etwas essen, wenn Sie erlauben.«
Er nickte dem Kellner zu und bestellte für sich Schweinesteak, für Julia Lachs und diverse Vorspeisen.
»Wie geht es meinem Patienten?«, fragte Julia.
»Gut. Was interessiert Sie denn konkret?«
Julia errötete verlegen. Sie hatte überhaupt nicht darüber reden wollen, die Frage nach Sergej war ihr einfach rausgerutscht,
und Raiskis Reaktion gefiel ihr gar nicht. Gut, dass im Restaurant Halbdunkel herrschte und er nicht bemerkte, dass ihre Wangen
glühten.
Dumme Gans, beschimpfte sie sich im Stillen. Bloß schnell das Thema wechseln. Und fang nie wieder davon an!
»Ich behalte meine Patienten normalerweise ein halbes Jahr lang im Auge, besonders nach einer so großen Operation«, erklärte
sie hastig. »Und
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