Der falsche Engel
das helle Licht gewöhnt und konnte Mila ansehen. Sie war vollständig angezogen, gekämmt und von bläulicher
Blässe. Ihre Augen huschten aufgeregt hin und her.
»Deine Nähte sind aufgeplatzt!«, erklärte Mila, warf die Decke weg, hob Angela aus dem Bett wie ein Kind und stellte sie vor
den großen Schminktisch. »Hier, sieh dir das an. Gut, dass ich bei dir reingeschaut und das gesehen habe.«
Angela schrie leise auf. Der Verband war von dunkelroten Flecken durchnässt. Sie griff sich ans Gesicht und stöhnte leise
und klagend: »O mein Gott, das ist Blut!«
»Hör auf zu jammern«, kommandierte Mila. »Los, beweg dich, der Wagen wartet schon.«
»Was für ein Wagen?«
»Ich hab ein Taxi gerufen.«
»Moment noch, wir müssen meine Ärztin anrufen. Mein Gott, das ist ja schrecklich, vier Uhr früh! Gib mir das Telefon!«
»Dazu ist jetzt keine Zeit, du kannst vom Auto aus anrufen.« Mila warf ihr Jeans und eine riesige Strickjacke hin.
Angela zog sich gehorsam an, wobei sie immer wieder in den Spiegel schaute.
»Komisch, es tut überhaupt nicht weh«, murmelte sie, als sie in den Lift stiegen. »Warte, hast du das Telefon mit?«
»Ja, hab ich, keine Sorge.« Mila klopfte auf ihre geräumige Tasche.
»Es tut überhaupt nicht weh, ich spüre gar nichts«, wiederholte Angela verwirrt.
»Kein Wunder«, bemerkte Mila, »nach zwei Tapesam und zwei Seduxen.«
»Ach ja, natürlich …«
Angela erinnerte sich genau, wie sie vor ein paar Stunden nicht hatte einschlafen können, weil das Jucken unter dem Verband
und schreckliche Gedanken sie peinigten. Sie war in die Küche gegangen. Dort saß Mila und las einen Liebesroman. Angela klagte,
sie könne nicht schlafen, und die Freundin gab ihr Tabletten und goss ihr Saft zum Nachtrinken ein.
Direkt vorm Haus stand ein bescheidener hellblauer Shiguli.
»Ihr habt euch ja Zeit gelassen, Mädchen, eine Minute Wartezeit kostet drei Rubel«, sagte der Chauffeur giftig.
»Keine Angst, wir zahlen, was du verlangst!«, beruhigte ihn Mila.
»Gib mir das Telefon, ich will meine Ärztin anrufen«, bat Angela, als der Shiguli anfuhr.
»Sofort.« Mila kramte in ihrer Tasche.
»Mädchen«, wandte sich der Fahrer an Angela, »was ist denn mit Ihrem Gesicht?«
»Nichts!«, schnauzte ihn Angela an und drehte sich zu Mila um. »Was machst du denn da so lange? Gib schon her!«
»Warte, ich muss erst deinen Verband mit Peroxid anfeuchten, damit er nicht antrocknet.«
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos erleuchteten das Wageninnere, und Angela sah, dass Mila anstelle des Telefons
einen weißen Lappen und ein kleines oranges Medizinfläschchen in der Hand hielt. Bevor sie irgendetwas begriff, stieg ihr
scharfer Chloroformgeruch in die Nase.
Eine halbe Stunde zuvor hatte ein Anruf in der Wohnung von Angela Boldjanko die beiden Überwacher geweckt, die im Hof in ihrem
Auto vor sich hin dämmerten.
»Hallo, ich höre«, antwortete eine hohe Frauenstimme in der Wohnung.
»Mila? Guten Morgen, hier ist die Taxizentrale, der Wagen ist jetzt da! Ein hellblauer Shiguli.«
»Danke, wir kommen sofort.«
»Mila ist ihre Haushälterin«, murmelte der Oberleutnant gähnend. »Wohin wollen sie um diese Zeit mit einem Taxi?«
»Da steht ein Shiguli vorm Eingang«, bemerkte der Unterleutnant.
»Geh mal nachsehen, ich höre derweil, was sie vorhaben.« Der Oberleutnant schloss die Augen und lehnte sich zurück, um noch
eine Mütze voll Schlaf zu bekommen.
Der Unterleutnant stieg widerwillig aus.
Sie hätten vor zwei Stunden abgelöst werden sollen, aber die Ablösung war noch immer nicht da. Es war bereits die zweite schlaflose
Nacht für die beiden, und da bislang absolut nichts Interessantes passiert war, hatte ihre Wachsamkeit nachgelassen. Sie fragten
sich nicht, warum sie den vorhergehenden Anruf, der ja vor mindestens einer halben Stunde erfolgt sein musste, nicht gehört
hatten.
Der Unterleutnant überquerte den Hof und schaute in den Shiguli. Auf dem Fahrersitz döste ein semmelblonder, etwa zwanzigjähriger
Bursche vor sich hin. Der Unterleutnantklopfte mit den Fingerknöcheln an die Scheibe. Der Bursche klapperte verwirrt mit den hellen Wimpern.
»Unterleutnant Melnikow. Guten Morgen.«
»Wohl eher gute Nacht«, sagte der Fahrer mit säuerlichem Lächeln.
»Verstoßen wir gerade gegen die Straßenverkehrsordnung?«, erkundigte sich der Unterleutnant leutselig.
»Ich glaube nicht.« Der Fahrer sah sich verwirrt um. »Wieso?«
»Ganz
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