Der falsche Engel
Operation?«
»Ja.«
»Werden die bleiben?«
»Nein. Sie werden bald entfernt.«
»Werden Sie nun immer mit diesem Gesicht leben?«
»Wahrscheinlich.«
»Und die Haare? Ist das Ihre eigene Farbe?« Sie strecktedie Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen seinen Kopf.
»Nein, die sind gefärbt.«
»Und wie sind Ihre Haare in Wirklichkeit?«
»Weiß.«
»Das heißt, Sie sind hellblond?«
»Ich bin grauhaarig.«
»Warum? Sie sind doch noch nicht alt. Wie alt sind Sie übrigens?«
»Sechsunddreißig.«
»Und warum ist Ihr Haar schon grau?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich die Gene.«
»Leben Ihre Eltern noch?«
»Nein.«
»Haben Sie eine Frau? Kinder?«
Sergej schüttelte wortlos den Kopf.
»Gehen Sie ein großes Risiko ein?«
»Kommt drauf an.«
»Wie heißen Sie wirklich?«
»Stanislaw.«
»Das ist nicht wahr«, stöhnte sie und verzog das Gesicht wie von einem plötzlichen Schmerz, »ich weiß, dass Sie anders heißen.
Sagen Sie mir, wie. Bitte!«
Das Telefon klingelte, sie zuckte zusammen und griff nach dem Hörer.
»Ja, ja, mein Lieber, er kommt gleich.«
Sie legte auf und erklärte: »Sie möchten zu ihm kommen. Er ist im Schlafzimmer, auf dem Flur rechts. Wollen Sie Tee oder Kaffee?«
»Danke. Tee, wenn möglich.«
Sergej ging zum General, Natalja blieb noch lange in der Küche sitzen, ohne sich zu rühren, und wiederholte im Stillen immer
wieder: Ein wildfremder Mensch. Ein vollkommen Unbekannter. Serjosha.
Vierunddreißigstes Kapitel
Nikolai erwachte als Erster, um zehn. Oxana schlief noch fest, und er weckte sie nicht, sondern kroch leise unter der Decke
hervor und ging zum Strand. Dort machte er eine halbe Stunde lang Kniebeugen und Liegestütze und schwamm anschließend noch
eine halbe Stunde im Meer. Als er zurückkam, stand Oxana in der Küche. Auf dem Herd brutzelte Ei mit Schinken, es roch nach
Kaffee und Toast.
»Guten Morgen.« Er küsste sie auf die Wange und setzte sich an den Tisch.
Sie berührte seine zerschlagene Wange.
»Du hättest gleich Eis drauflegen sollen, dann hättest du jetzt keine Beule.«
»Ach, scheiß auf die Beule.« Nikolai verzog das Gesicht. »Aber schade um den Zahn.«
»Du hättest lieber ihm einen Zahn ausschlagen sollen«, knurrte Oxana.
»Ich hätte aus diesem Bastard Hackfleisch gemacht, wenn der General nicht wäre. Ich mag den Alten sehr. Und die Generalin
tut mir auch leid. Sie sind so nette Leute, wieso haben sie bloß so einen Sohn? Den sie auch noch abgöttisch lieben.«
»Er ist ihr Sohn«, seufzte Oxana, »da kann man nichts machen. Sie haben ihn bestimmt furchtbar verwöhnt, darum ist er nun
so ein Stiesel. Übrigens müssen wir aus der Pfanne essen, das japanische Service hat er bis auf die letzte Schüssel zerschlagen.«
Auf dem Tisch lag die Schachtel mit den Ampullen, daneben der Beipackzettel.
»Willst du ihn spritzen?«, fragte Oxana und nahm die Pfanne vom Herd.
»Mhm«, brummte Nikolai. Seine Augen glitten über denBeipackzettel. »Dieses Präparat ist übrigens ein ziemlich übles Zeug.«
»Aber was soll man machen, wenn er so tobt?« Oxana zuckte die Achseln. »Iss, es wird kalt.«
Nikolai legte den Zettel beiseite und machte sich über das Ei her. Eine Weile aßen Sie schweigend; die Gabeln schlugen klappernd
gegen die Pfanne.
»Rufst du die Eltern an?«, fragte Oxana, während sie Kaffee einschenkte.
»Vorerst nicht. Sie haben schon genug Probleme.« Nikolai trank den Kaffe aus, stand auf und streckte sich. »Ich geh mal nachsehn,
was unser Irrer macht.«
Oxana blieb, um abzuwaschen. Kurz darauf kam Nikolai zurück und erklärte, der Irre schlafe.
»Er pennt immer bis mittags um eins.«
»Dann geh ich so lange zum Zahnarzt.«
Der General saß in einem Sessel, mit einem riesigen Plaid zugedeckt. Er sah nun etwas besser aus.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Sergej.
»Stell mir nie mehr diese blöde Frage. Denk dran, ich hab nur noch wenig Kraft, und die will ich nicht für leeres Geschwätz
verschwenden. Setz dich. Sag mir, warum hast du dich darauf eingelassen?«
»Ich verstehe nicht …«
»Das eigene Gesicht für immer zu verlieren. Ist es nur das Geld oder noch etwas anderes?«
»Noch etwas anderes.« Sergej lächelte.
»Na los, erzähle. Es ist mein Recht, das zu wissen.« Der General zwinkerte ihm zu und entblößte eine Reihe makelloser Porzellanzähne.
»Michail hat dir bestimmt befohlen, mir altem Mann ein Lügenmärchen aufzutischen, oder?«
»Nicht doch,
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