Der falsche Engel
sich versah, waren drei Stunden vergangen. Endlich hatte sie es geschafft, ein Gesicht zu modellieren, das dem
früheren Gesicht von Angela einigermaßen nahekam. Sie schaltete den Drucker ein, doch plötzlich reagierte der Computer nicht
mehr. Julia wollte nicht in Panik fallen und ging in die Küche, eine rauchen und sich noch einen Kaffee kochen. Als sie zurückkam,
war alles unverändert: Das schicke Toshiba-Notebook, vor einem Monat für viertausend Dollar gekauft, war ins Koma gefallen.
Es war kurz nach drei Uhr nachts. Sie musste sich damit abfinden und ins Bett gehen.
Julia beschimpfte den Computer, schaltete ihn aus und ging unter die Dusche. Durch das Wasserrauschen hörte sie das Telefon
klingeln. Sie wurde manchmal nachts aus der Klinik angerufen, wenn bei einem ihrer Patienten Komplikationen auftraten und
der diensthabende Arzt nicht ohne sie klarkam. Aber das geschah äußerst selten. Sie hüllte sich in ihren Bademantel und lief
barfuß in die Küche.
»Ja, bitte.«
»Julia, entschuldigen Sie den späten Anruf. Werden Sie Angela operieren?«
»Wer sind Sie?«
»Ich bin ihr Produzent. Ich heiße Gennadi.«
»Woher haben Sie meine Privatnummer?«
»Ich bitte nochmals um Entschuldigung« – die Stimme klang weich und höflich –, »was meinen Sie, können Sie Angela ihr Gesicht
wiedergeben?«
»Hören Sie, Gennadi, warum rufen Sie mich zu Hause an und um diese Zeit?«
Im Hörer ertönte ein unangenehmes spöttisches Lachen, dann sagte die Stimme höflich und ganz langsam, beinaheSilbe für Silbe: »Seien Sie nicht so nervös, Julia. Arbeiten Sie in Ruhe.«
»Ich bitte Sie, mich nicht mehr zu belästigen«, antwortete Julia im selben Ton und setzte hinzu: »Zumindest nicht zu Hause
und nicht zu so unüblicher Zeit.«
»Ich werde mich bemühen«, versprach der Anrufer friedfertig, »aber das wird ganz von Ihnen abhängen. Vor allem bitte ich Sie,
jeden Kontakt mit Journalisten zu vermeiden. Überhaupt sollten Sie mit niemandem über irgendwas reden. Ihr Schweigen wird
zusätzlich honoriert, unabhängig vom Ergebnis der Operation. Ich hoffe, Sie haben mich verstanden. Alles Gute.« Es tutete
im Hörer.
Ich werde die Sängerin nicht operieren, sagte sich Julia. Gleich morgen lehne ich ab. Wozu habe ich das alles nötig?
Der feierliche Augenblick war gekommen, da Doktor Awanessow und Schwester Katja Major Loginow aus dem Bett halfen und ihn
an Krücken aufrichteten. Mit eiskaltem Schweiß überströmt, lief er drei Schritte durchs Zimmer. Seitdem schaffte er jeden
Tag ein, zwei Schritte mehr.
Eines Abends besuchte ihn ein hochgewachsener, militärisch straffer Mann mit sympathischem Gesicht und kalten Augen hinter
Brillengläsern in teurem Rahmen. Er stellte sich als Psychologe vor und erklärte, er werde mit ihm eine individuelle Psychotherapie
zur Rehabilitation durchführen. Er hieß Michail Jewgenjewitsch. Er befragte Loginow lange und ausführlich, erkundigte sich
nach seinem Befinden, seinem Schlaf, danach, ob ihn Alpträume quälten oder er Anzeichen von Depression zeige.
»Erinnern Sie sich, wie Sie hierhergekommen sind?«
»Dunkel.«
»Können Sie wenigstens irgendetwas darüber erzählen?«
»Lampen. Lange Lampen an der Decke. Ich wurde auf einerTrage aus dem OP gefahren, und ich dachte, das sei der Tunnel, den Menschen beschreiben, die den klinischen Tod erlebt haben.«
»Und davor?«
»Davor wurde ich operiert. Der geniale Doktor Awanessow hat meine Beine gerettet. Eine intrakortikale Transplantation.«
»Wunderbar.« Der Psychologe nickte. »Ich sehe, mit Ihrem Gedächtnis ist alles in Ordnung. Versuchen wir nun mal, die Ereignisse
zu rekonstruieren, von Anfang an. Ihr Name, Vorname, Geburtsort und -jahr, Dienstgrad?«
»Loginow Sergej Alexandrowitsch, geboren in Moskau, am fünften Januar 1964. Major der Russischen Armee.«
»Etwas konkreter bitte.«
»Aufklärung«, knurrte Sergej leise.
»Gut. Wo haben Sie gekämpft?«
»Afghanistan, Tadshikistan, Tschetschenien.«
Im Zimmer trat Stille ein. Man hörte draußen die nassen Kiefernzweige rauschen und den eiskalten Regen aufs Dach prasseln
– den ersten Regen nach dem Winter.
»Daran erinnern Sie sich also«, sagte der Besucher schließlich nach einem Räuspern. »In dem Fall müssen Sie sich auch an alles
andere erinnern. Sagen Sie, unter welchen Umständen gerieten Sie in tschetschenische Gefangenschaft?«
»Ich war in tschetschenischer Gefangenschaft?«
»Nein. Sie
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