Der falsche Engel
eine Sprungfeder und drehte sich um. In der Hand hielt sie eine Plastiktüte.
»Das hier hab ich heute beim Staubsaugen hinter den Büchern gefunden.«
In der Tüte lag eine Pistole.
Mamonow erzählte Julia, auf Bitte von Oberst Raiski sei in der Klinik eine provisorische Filiale der Lubjanka eingerichtet
worden. Eine äußerst liebenswürdige Frau, Hauptmann des FSB, als diensthabende Ärztin getarnt, habe Angela besucht. Außerdem
sei deren Zimmer voller Wanzen.
»Woher wissen Sie das?«, flüsterte Julia in Mamonows behaartes Ohr.
»Ich weiß es eben – zum Glück. Wir sind immerhin eine Privatklinik mit einem zuverlässigen Sicherheitsdienst, da kommt kein
Unbefugter einfach auf eine Station. Also musste der Oberst mich informieren. Er hat mir einen Beschluss des Staatsanwalts
vorgelegt. Sie suchen einen gemeingefährlichen Verbrecher, einen Terroristen, der irgendwie mit der armen Angela in Verbindung
steht. Und ich alter Idiot hab sie selber in unsere Klinik gebracht und Sie gebeten, das Mädchen zu operieren, und nun stellt
sich raus, dass sie mit Banditen befreundet ist.«
Der Tschetschene existiert also doch, dachte Julia, umso besser – eine Lüge weniger. Angenehm.
Doktor Tichorezkaja kannte alle Sicherheitsleute von Angesicht und mit Namen, und alle kannten sie. Sie ging ins Erdgeschoss
hinunter und trat an den Tresen, hinter dem ein kräftiger junger Mann im Tarnanzug saß. Rechts von ihm flimmerte ein großer
Monitor, entsprechend der Anzahl der Flure in sechs Sektoren unterteilt. Auf den ersten drei Etagen befand sich die Ambulanz,
auf den übrigen lagen die Stationen.
Den Sicherheitsmann kannte Julia nicht. Er hatte dasGesicht vom Monitor abgewandt und schaute nach unten. Wohin genau, konnte Julia wegen des Tresens nicht ausmachen.
»Guten Tag. Sind Sie neu bei uns?«
»Tag«, sagte er düster und nickte.
»Ich bin Doktor Tichorezkaja. Für mich muss hier ein Umschlag abgegeben worden sein.«
»Heute hat hier niemand was abgegeben.«
»Sehen Sie bitte einmal nach. Er kann auch schon gestern abgegeben worden sein, vorgestern oder vor drei Tagen. Ich war auf
Dienstreise.«
»Gut, ich schau mal nach.«
Während er auf dem Tisch herumkramte, schaute Julia auf den Monitor. Auf allen sechs Fluren herrschte der normale Samstagsbetrieb.
Am Wochenende waren keine Sprechstunden, aber Patienten kamen zur Behandlung, fast alle Sprechzimmer waren besetzt. Im dritten
Flur erkannte sie die Tür ihres Sprechzimmers. Vika kam gerade heraus und ging mit tänzelnden Schritten zum Ende des Flurs,
ins Dienstzimmer. Im zweiten Flur, vor Mamonows Zimmer, saßen drei Männer, die nicht wie Ärzte oder Patienten aussahen. Über
den Flur der vierten Etage wurde ein Patient aus dem OP gerollt.
»Es ist nichts da für Sie«, verkündete der Sicherheitsmann mürrisch.
»Das kann nicht sein. Sie haben nicht richtig nachgesehen. Lassen Sie mich mal selbst.« Julia trat energisch hinter den Tresen.
»He, Sie dürfen hier nicht rein.« Der Mann sprang auf und stellte sich ihr in den Weg.
»Keine Angst, junger Mann, nur einen Augenblick, es muss etwas da sein, die Röntgenaufnahme einer Patientin aus dem Institut
für Zahnmedizin, es ist wirklich dringend.« Julia lächelte ihn an und schielte vorsichtig auf den Tisch. Dort stand ein kleiner
Fernseher mit Antenne. Sie konnteden Bildschirm nicht sehen, doch auf die polierte Tischfläche fiel ein deutlicher blauer Schein. Der Ton war abgestellt. Wenn
der Wachmann fernsehen würde, wäre der Ton bestimmt an.
»Gehen Sie bitte hinaus.« Der Mann beugte sich vor, um sie wegzudrängen.
»Aber ich sage doch, es dauert nur eine Sekunde.« Sie schlüpfte hinter den Tresen und kramte in den Papieren auf dem Tisch.
Der Bildschirm des Fernsehers zeigte Angelas Zimmer. Julia sah das Mädchen auf dem Bett sitzen, die Beine angezogen und sich
leicht vor- und zurückwiegend. Sie hatte Kopfhörer auf. Der gesamte Raum war ziemlich gut einzusehen. Fußboden, Nachtschränkchen
und Bett waren mit Fotos, CDs und Zeitschriften übersät.
Die Kamera musste in der Ecke überm Fenster installiert sein.
»Ich bitte Sie, gehen Sie wieder vor den Tresen«, wiederholte der Sicherheitsmann mit klirrender Stimme. Er war offenkundig
verwirrt. Sein Gesicht war rot angelaufen, auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Er war blutjung, wahrscheinlich Leutnant,
und wusste nicht, wie er mit der aufdringlichen Ärztin umgehen sollte. Wahrscheinlich
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