Der falsche Engel
hatte man ihn angewiesen, Personal und
Besucher freundlich zu behandeln, doch den kleinen Fernseher auf seinem Tisch durfte um keinen Preis jemand sehen.
»Regen Sie sich nicht auf, ich verschwinde schon, entschuldigen Sie die Störung«, gurrte Julia.
Mit klopfendem Herzen schlenderte sie zum Lift, fuhr hinauf in die zweite Etage und ging in ihr Zimmer.
Vika war schon zurück aus dem Dienstzimmer.
»Sag mal, wer hat gestern unten an der Wache gesessen?«, fragte Julia, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und trank
gierig.
»Meine Güte, Julia, Sie sind ja ganz blass! Ist etwas passiert?« Vika reichte ihr einen Plastikbecher.
»Nein, es ist nichts weiter, ich bin nur nicht ausgeschlafen. Du weißt ja, wann ich nach Hause gekommen bin. Ich schaue jetzt
kurz auf der Station vorbei, höchstens vierzig Minuten. Wenn ich zurück bin, gehen wir beide was essen.«
»Gut. Waren Sie bei Angela?«
»Da will ich gerade hin.«
»Wo haben Sie so lange gesteckt?«, fragte Angela dumpf, raffte rasch alles zusammen, was auf dem Bett lag, und legte es auf
den Nachtschrank. »Man hat mir gesagt, Sie seien auf einer Dienstreise. So eine dumme Ziege war hier und hat mir lauter blöde
Fragen gestellt.«
»Hallo«, sagte Julia und setzte sich zu Angela aufs Bett. Dabei glitten ihre Augen übers Fenster und fanden das Gesuchte in
der Ecke hinterm Vorhang. Die Kamera war sehr professionell installiert. Wenn man es nicht wusste, würde man sie nicht bemerken.
»Waren Sie wirklich auf einer Dienstreise?«
»Ja, wirklich. Wie geht es dir?«
»Mittelprächtig. Es juckt, als würden überall Ameisen rumkrabbeln. Ich kann überhaupt nicht schlafen. Am liebsten würd ich
alles aufkratzen.«
»Jucken ist ein Zeichen von Heilung.« Julia setzte sich auf den Bettrand. »Lass mal schauen, wie es aussieht.«
Sie nahm vorsichtig den Verband ab. Der Heilprozess verlief wirklich gut.
»In einer Woche gehst du nach Hause, ruhst dich zehn Tage aus, und dann bereiten wir uns auf die nächste Operation vor.«
»Kann ich heute mal nach Hause fahren?«
»Ich hab doch gesagt, in einer Woche gehst du nach Hause.«
»Aber ich muss heute. Morgen bin ich wieder hier.«
»Das ist noch zu früh.« Julia schüttelte den Kopf. »Du kannst dich noch nicht selbst versorgen. Du darfst keine heftigen Bewegungen
machen und dich nicht bücken. Es muss ständig jemand bei dir sein. Soweit ich weiß, lebst du allein.«
»Das ist kein Problem. Ich hab eine Freundin, Mila, meine Haushälterin. Ich ruf sie an, dass sie kommen soll.«
Julia ertappte sich dabei, dass sie die ganze Zeit unwillkürlich nach der Videokamera schielte. »Alles in Ordnung bei dir.«
Sie lächelte angestrengt. »Versuch, möglichst viel zu schlafen. Im Schlaf heilt alles besser.«
»Okay. Gehen Sie schon?«
»Ja. Ich muss.«
»Warten Sie, Julia«, murmelte Angela, »zeigen Sie mir bitte, wie das Fenster aufgeht. Es ist so stickig.«
Julia ging zum Fenster und wäre dabei beinahe auf die am Boden liegenden Fotos getreten. Sie bückte sich, hob ein paar davon
auf und wollte sie aufs Fensterbrett legen, stutzte aber plötzlich. Von einem Foto blickten sie die gleichmütigen grauen Augen
von Objekt A an.
Hoppla! Jetzt ist es so weit! Jetzt sehe ich diesen Kerl schon in jedem männlichen Gesicht, dachte sie beinahe belustigt.
Ich muss dringend mal ausschlafen.
Um die Halluzination zu vertreiben, sah sie genauer hin und begriff, dass mit ihren Augen alles in Ordnung war. Er war es
wirklich – Objekt A. Er stand neben Angela. Beide schauten ins Objektiv. Sie lächelte, großzügig alle zweiunddreißig Zähne
zeigend. Er wirkte düster. Beide hielten ein Glas in der Hand. Im Hintergrund erkannte man einen Restauranttisch, die undeutlichen
Silhouetten der daran Sitzenden und eine leere Bühne mit bunten Lichtern.
»Gena hat einen Haufen Fotos angeschleppt«, sagte Angela nach einem kurzen Husten. »Das sind Aufnahmen von diversen Partys.«
»Ach ja.« Julia nickte. »Hier, siehst du, hier ist ein Hebel, daran musst du ziehen.«
Noch immer die Fotos in der Hand, hob sie den Kopf und schaute in das winzige, interessierte Auge der Videokamera. Ihr Herz
machte einen unangenehmen Satz. Sie ging rasch zum Bett, legte die Fotos scheinbar zerstreut neben Angela und trat erst dann
wieder ans Fenster. Der Hebel gab nicht nach.
»Ich rufe einen Schlosser.«
»Okay.« Angela nickte.
»War das alles? Weiter keine Fragen und Bitten?«, erkundigte
Weitere Kostenlose Bücher