Der falsche Engel
ihnen.
Aber das Jahr verging, Julia bezahlte mit Unterstützung ihrer Eltern ein Kindermädchen für Schura und kehrte zurück in die
Facharztausbildung. Anfangs hatte Oleg nichts dagegen und schien sich sogar für sie zu freuen, doch er kam nun immer früher
nach Hause und wurde von Tag zu Tag düsterer.
Julia hatte entschieden, sich auf plastische Chirurgie zu spezialisieren – zu Recht: Ihre Augen und ihre Hände waren wie geschaffen
dafür.
Als Mamonow sie mitnahm in eine der ersten Privatkliniken für plastische Chirurgie, war ihr Gehalt rund zehnmal so hoch wie
Olegs Monatseinkommen. Ihr Mann machte ihr eine Szene und erklärte, sie schlafe um der Karriere willen mit dem dicken alten
Professor. Er ließ keinerlei andere Erklärung für ihren Erfolg gelten. Er sei schließlich kein Idiot, er kenne doch das Leben:
Nichts ist umsonst, für alles muss man zahlen, meine Liebe. Am schlimmsten war, dass sich diese Szene beinahe täglich wiederholte,
in unterschiedlichen Varianten, in verschiedenem Ton, und fast immer vor der kleinen Schura.
Eines Tages fragte ihn Julia: »Sag mal, warum hast du mich, als ich zu Hause saß und vollkommen von dir abhängig war, so munter
betrogen, und jetzt, da ich arbeite und bei mir alles in Ordnung ist, sitzt du stur jeden Abend zu Hause, anstatt dir eine
neue Freundin und Trösterin anzuschaffen?«
Das war eine wahrhaft philosophische Frage. Statt einer Antwort verhängte Oleg einen Boykott über sie, redete eine Woche nicht
mit ihr, ließ sich extra krankschreiben, lagtagelang auf dem Sofa, starrte in den Fernseher und ignorierte es, wenn Julia ihn zum Essen rief. Das Kindermädchen Marina,
die stumme Zeugin, erzählte Julia im Vertrauen, sie müsse sich keine Sorgen machen, Oleg werde schon nicht verhungern, denn
tagsüber, wenn Julia arbeiten sei und sie mit Schura spazieren gehe, esse er mehr als genug.
Als der Boykott als erzieherische Maßnahme sich erschöpft hatte, fuhr Oleg schwere Artillerie auf. Nach einer zärtlichen,
rührenden Versöhnung erklärte er, ihm sei nun klar, was ihr Hauptproblem sei. Sie müssten sich sofort ein zweites Kind anschaffen.
»Und wovon sollen wir leben, wenn ich aufhöre zu arbeiten?«, fragte Julia.
»Willst du damit sagen, dass wir von deinem Geld leben?«, fragte er zurück.
Das hatte sie keineswegs sagen wollen, sie hatte nicht die Absicht, sein männliches Selbstwertgefühl zu verletzen und auszusprechen,
was die reine Wahrheit war: Sein Poliklinikgehalt reichte gerade für seine Zigaretten.
»Wenn ich die Klinik für anderthalb Jahre verlasse, kann ich vielleicht nicht wieder zurück«, bemerkte sie vorsichtig.
»Du gehst auch nicht zurück«, tröstete er sie und strich ihr zärtlich über den Kopf. »Du wirst endlich eine normale Ehefrau
und Mutter, bleibst zu Hause, und alles wird gut.«
»Oleg, ich kann ohne meine Arbeit nicht leben, wenn ich nur zu Hause sitze und Windeln wasche, werde ich verrückt.«
»Wieso Windeln waschen?«, entgegnete er lachend. »Es gibt doch Pampers.«
Pampers? Wenn ich nicht mehr arbeite, reicht das Geld kaum fürs einfachste Essen und für die Miete, dachte Julia, sagte das
aber nicht laut.
»Du willst also kein zweites Kind?«, resümierte er in tragischemTon. »Du hast also die Absicht, weiterhin nur an dich zu denken?«
Wieder schwieg sie und ging zu Schura schlafen. Sie lebten noch drei Jahre zusammen, in deren Verlauf Julia Oleg immer wieder
aufforderte, sich eine andere zu suchen, eine Frau, wie er sie verdiente. Hin und wieder versöhnten sie sich, und er klagte,
was für eine Hexe die Chefärztin seiner Poliklinik sei, was für ein Aas in der Anmeldung sitze, wie sehr ihn die blöden Weiber
mit ihrem ewigen Hexenschuss nervten, in was für einer schrecklichen Zeit sie lebten, wie unverschämt die Preise stiegen,
dass das Land von Banditen und korrupten Beamten regiert werde und dass ihre Tochter Schura ganz verkehrt aufwachse und ein
schlimmes Ende nehmen werde, denn sie habe schon jetzt keinerlei Respekt vor ihrem Vater.
Schließlich stand nur noch das Wohnungsproblem einer Scheidung im Wege. Das Zusammenleben war unerträglich geworden, aber
um sich zu trennen, mussten sie die Zweizimmerwohnung tauschen. Oleg wollte sich darum nicht kümmern. Julia hätte es getan,
aber nicht heute, nicht jetzt, und auch nicht morgen, denn heute hatte sie gleich zwei Operationen, morgen den ganzen Tag
Sprechstunde, am Donnerstag Praktikanten und
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