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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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sie sicher war,
     dass sie jetzt sterben würde, drangen ihr die nächsten Befehle der Feldscherin direkt ins Gehirn: Erst nicht pressen, dann
     doch – so stark sie konnte.
    Der Schmerz war verebbt. Sie vernahm ein schwaches, klägliches Fiepen.
    »Ein Junge!«, rief die Pantelejewna über ihr. »Höchstens zweieinhalb Kilo. Aber das macht nichts, er wird schnell zunehmen.«
    Es war ein winziges, tintenblaues Geschöpf, mit weißer Schmiere bedeckt, hilflos, rührend und das Schönste auf der Welt. Augenblicklich
     vergaß Natalja ihren Schmerz, hörte dem schwachen Fiepen zu, als wäre es bezaubernde Musik, und konnte den Blick nicht von
     dem faltigen Gesichtchen wenden.
    Die Pantelejewna nahm ihr das Kind ab, gab es Wladimir und kümmerte sich um Natalja. Die Sonne schien weich, bestimmt war
     schon Abend. Die Vögel sangen wie verrückt. Natalja fühlte nichts als eine selige, glückliche Schwäche.
    »Ach du meine Güte!«, heulte die Pantelejewna. Natalja begriff nicht gleich, was los war. Ihr Körper wurde erneut von entsetzlichem
     Schmerz erfasst, und wieder musste sie pressen.
    »Mama!«, schrie Natalja mit letzter Kraft.
    Der Schmerz war ebenso plötzlich vorbei, wie er gekommen war. Doch anstelle eines lebendigen Fiepens herrschteStille. Selbst die Vögel schienen verstummt zu sein. Nur die Pantelejewna bemühte sich zornig fluchend, den zweiten Jungen
     zu retten.

Achtzehntes Kapitel
    Angela begann zu denken. Zum ersten Mal seit anderthalb Monaten. Bisher hatten ausschließlich Gefühle sie beherrscht. Und
     zwar nur drei: Verzweiflung, Angst und Wehmut. Sonst nichts. Nun war das Schlimmste überstanden. Sie wusste, sie würde diese
     Klinik mit einem Gesicht verlassen, mit dem sie weiterleben konnte. Sie verspürte nicht mehr den Wunsch nach einer tödlichen
     Dosis Morphium. Sie wollte weiterleben, ja, sogar auf der Bühne stehen und singen.
    Sie lag mit geschlossenen Augen im Zimmer, blickte durch die Sehschlitze des Verbands an die Decke und dachte darüber nach,
     dass ihr ganzes Leben ein einziges langes Interview gewesen war. Mit dummen und klugen Fragen, boshaften und begeisterten,
     dreisten und schüchternen. Und immer war es darauf angekommen, die richtige Antwort zu finden.
    Ihr Onkel besaß ein Haus in der Taiga, bei Swerdlowsk. Dorthin war sie in den Ferien immer geschickt worden. Sie liebte den
     einsamen Onkel, einen schweigsamen Trinker, mehr als alles auf der Welt, mehr als Mama und Papa. Er war der einzige Mensch,
     der ihr keine Fragen stellte. Als sie sieben war, brachte er ihr das Akkordeonspielen bei. Bei ihm konnte sie ihre Liedchen
     trällern, so laut sie wollte, konnte sich stundenlang vor dem trüben Spiegel hin und her drehen, sich in alle möglichen Gewänder
     aus Omas Truhe hüllen und von künftigem Ruhm träumen.
    Die erste entscheidende Frage, die das Leben an sie stellte,war die Bewerbung an der Schule für Zirkus- und Unterhaltungskünstler. Die Aufnahme erfolgte nach der achten Klasse, die Konkurrenz
     war groß. Zirkusberufe wurden meist vererbt; Artistenkinder, die in der Arena aufgewachsen waren, liefen außer Konkurrenz.
     Angela war schlau. Die meisten Mädchen wollten Akrobatin, Jongleurin, Äquilibristin oder Sängerin werden. Es waren schrecklich
     viele. Angela Boldjanko bewarb sich für das Fach Clownerie. Dafür bewarben sich selten Mädchen. Sie wurde auf Anhieb genommen.
    Angela wurde kein Clown. Vier Absolventinnen der Schule gründeten das Mädchenquartett »Miau!«. Die Mädchen sangen mit dünnen,
     klagenden Stimmen. Sie trugen rosa Kleidchen, enganliegende Leggins, Ballettschuhchen und Seidenschleifen im Haar und waren
     puppenhaft geschminkt. Sie miauten wie Märzkatzen, drehten nach jedem Song dem Publikum den Hintern zu und hoben kreischend
     die Spitzenröckchen.
    Die Gruppe konnte ein paar Videoclips im Regionalfernsehen unterbringen und errang auf einem regionalen Wettbewerb junger
     Interpreten den Zuschauerpreis. Dann stand die erste Tournee bevor – nach Sibirien. Dazu musste das Repertoire ein wenig aufgemotzt
     werden.
    Gena Sitnikow, Komponist, Texter und zugleich Produzent der Gruppe, schrieb über Nacht einen Superhit. Ein lyrisches Lied,
     das nach solistischer Interpretation verlangte. Eines der Mädchen sollte das Solo singen, die anderen drei den Background
     übernehmen. Der arme Produzent ahnte nicht, was er anrichtete, indem er es den Mädchen überließ, die Solistin zu bestimmen.
    Zu diesem Zeitpunkt hatten sich in dem

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