Der falsche Engel
Wladimir lächelte. »Komm, lass uns was essen, solange wir stehen. Pantelejewna, möchten
Sie etwas essen?«
»Und ob!«, erwiderte die Feldscherin erfreut und kramte sofort raschelnd herum. Die Tasche mit dem Proviant stand neben ihr.
»Wer möchte was? Wir haben Eier, Brote mit Wurst und mit Käse.« Sie reichte die Thermosflasche mit heißem Tee nach vorn und
eine Papiertüte mit Broten und begann ihrerseits geräuschvoll zu kauen.
Natalja umklammerte den heißen Blechbecher mit beiden Händen, führte ihn an die Lippen und hätte den Tee beinahe verschüttet.
Eine neue Schmerzwelle erfasste sie, sie krümmte sich und biss die Zähne zusammen.
»Was hast du?«, fragte Wladimir leise.
»Nichts. Mir tut irgendwie der Rücken weh.«
Wladimir wusste, dass sie noch lange hier stehen würden. Er konnte das Rad nicht wechseln – er hatte keinen Wagenheber dabei.
Sie mussten warten, bis ein Auto vorbeikam. Doch damit war erst zu rechnen, wenn der Regen aufgehört hatte und die Chaussee
wieder trocken war. Kein vernünftiger Chauffeur fuhr ohne Not über die nassen Serpentinen.
»Die Wurst ist gut«, zwitscherte die Pantelejewna hinten, »ach, und hier sind ja noch Jägerwürstchen, eine ganze Packung.
Die stammen wohl aus der Offiziersverpflegung? Bei uns im Laden hats so was schon ewig nicht mehr gegeben.«
»Wladimir!«, rief Natalja verzweifelt. »Es tut so weh, ich halte es nicht mehr aus! Lass uns schnell fahren!«
»Was denn, Natalja, wo tuts weh?« Wladimir drehte sich abrupt um und ließ ein Stück Zeitungspapier mit Eierschalen auf den
Boden fallen.
»Überall … Als ob man mich mittendurch schneidet«, stöhnte Natalja.
»He, was soll das, Mädchen, warte, das geht doch nicht!«, jammerte die Pantelejewna erschrocken.
Statt einer Antwort schrie Natalja laut auf, dann atmete sie heftig und rasch, schließlich sagte sie mit fremder Stimme gepresst:
»Unter mir ist alles nass. Das Wasser ist abgegangen.«
»Was für Wasser, Natalja?«, fragte Wladimir flüsternd. Plötzlich bemerkte er, dass ihr Gesicht ganz eingefallen war und spitz
aussah, und ihm schien, sie redete im Fieber.
»Was schon«, meldete sich die Feldscherin, »das Fruchtwasser natürlich. Los, fahr schon, vielleicht schaffen wirs ja noch.
Ist immerhin ihre erste Geburt, fünf Stunden dauert das bestimmt.«
»Ich kann nicht fahren!«, brüllte Wladimir. »Ich hab keinen Wagenheber, kapiert?!«
»Ach du Scheiße! Und was jetzt?«
Der Regen prasselte noch immer aufs Planendach, es hing schon durch. Der einsame Militärjeep unterm schwarzen Himmel, inmitten
der wilden, vom Regen aufgeweichten Sajan-Berge wirkte winzig und leicht wie ein Spielzeug. Windböen schüttelten ihn durch
und bliesen die nasse Plane auf. Auf der einen Seite ein Abgrund, auf der anderen die Berge, und kilometerweit keine Menschenseele.
Die Pantelejewna kroch fluchend aus dem Auto. Wladimir trug Natalja auf den Rücksitz, bettete sie mit Hilfe der Alten notdürftig
und roch dabei den intensiven Schnapsdunst aus dem Mund der Feldscherin.
»Sag schon, was jetzt?«, rief er ihr ins Ohr.
»Brüll nicht so!«, erwiderte die Alte grob. »Hast du Sprit oder Wodka? Zum Desinfizieren!«
»Ich hatte Wodka, aber den hast du ja ausgesüffelt, du alte Schnapsdrossel!«, knirschte Wladimir böse.
»Bloß einen kleinen Schluck, damit ich mich nicht erkälte, waren doch nur ein paar Schluck drin in der Flasche.«
»Unten in meiner Tasche ist Eau de Cologne«, konnte Natalja noch sagen, bevor sie erneut in klagendes, animalisches Stöhnen
ausbrach.
Acht Monate Schwangerschaft, dieses geheimnisvolle, anheimelnde Stück Leben, da der Schlaf besonders fest und süß ist, das
Essen und die Luft ganz anders schmecken, alle Gerüche intensiver und die Farben heller sind, diese acht Monate glücklicher
Erwartung konnten doch nicht mit einem solch ungeheuren Schmerz enden!
»Was jetzt?«, hörte sie Wladimir erschrocken fragen, als die Wehe abebbte.
»Nichts. Jetzt können wir nur warten«, antwortete die Pantelejewna. »Natalja! Schrei nicht so, du nimmst demKind die Luft weg. Du musst hecheln wie ein Hund, wenns heiß ist, flach und schnell. Ruh dich aus, wenn die Wehe vorbei ist.
Entspann dich.«
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Der Regen hatte aufgehört, die Sonne schien. Kein einziges Auto war vorbeigekommen.
Mal hörte Natalja die Feldscherin und Wladimir, dann wieder nicht, betäubt von der nächsten Schmerzwelle. Als
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