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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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aus der Wand, genau gegenüber vom Bett.
    »Gratuliere, Sie werden keine Kelloiden bekommen«, sagte sie laut und freudig.
    »Was für Kelloiden?«
    »Gewölbte Narben. Ein Hauptübel bei plastischen Operationen. Dagegen ist der Arzt machtlos. Das hängt nur vom jeweiligen Körper
     ab.«
    Sie setzte zu einer medizinisch-wissenschaftlichen Erklärung an. Er hörte nicht zu. Ihre Nähe verursachte ihm ein Kribbeln
     in der Brust. Das Herz schwoll an und pochte rasch und schwer.
    »Sie sollten langsam hinausgehen an die Luft«, vernahm er ihre tiefe, ruhige Stimme. »Es ist schon warm draußen. Frühling.
     Ich rede mit dem Oberst.«
    »Der Oberst, der Oberst«, murmelte Sergej gedehnt, »wissen Sie, wie sehr ich den satt habe? Wahrscheinlich mehr als alles
     andere.«
    »Ich, ehrlich gesagt, auch.« Julia zog sich plötzlich die Maske herunter und lächelte breit und fröhlich direkt ins Auge der
     Videokamera.
    Sie war noch schöner, als er sich vorgestellt hatte. Ein schmales, ebenmäßiges Gesicht, wie auf einem antiken Porträt.
    Aber vielleicht ist das nur das Werk ihrer Kollegen, dachteSergej giftig. Ach was, ich bin ein Idiot. Sie gefällt mir einfach unheimlich, und das macht mir Angst.
    Inzwischen hatte Julia ein kleines Handy aus ihrer Kitteltasche genommen und wählte.
    »Michail? Guten Tag. Danke, alles in Ordnung. Seien Sie so gut und ordnen Sie an, dass mein Patient zum Spazierengehen an
     die Luft kommt. Ja, eben, solange er noch einen Verband trägt. Danach wird er die Sonne eine Weile meiden müssen. Danke. Ihnen
     auch.« Sie steckte das Telefon wieder weg und sagte zu Sergej: »Alles geregelt. Wenn Sie möchten, können Sie jetzt gleich
     spazieren gehen.«
    »Leisten Sie mir Gesellschaft?«, platzte er heraus.
    »Gern.«
    Draußen wurde ihm schwindlig. Julia, als spüre sie das, nahm seinen Arm. Sie war ohne Haube und ohne Kittel, sie trug einen
     leichten hellen Mantel. Ihr kurzes kastanienbraunes Haar glänzte und wurde vom Wind gezaust.
    Es war ein warmer, trüber Tag. Es roch nach feuchter Erde. Sie liefen langsam an nackten Fliederbüschen entlang. Unter ihren
     Füßen knirschte nasser Kies.
    »Haben Sie Familie?«, fragte sie plötzlich nach langem, angespanntem Schweigen.
    »Nein. Ich hatte eine Mutter. Jetzt habe ich niemanden mehr.«
    »Wie kommt das? Sie sind sechsunddreißig.«
    »Ich hab Segelohren.«
    »Das ist Vergangenheit.« Sie blieb stehen und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Manteltasche. Der Wind blies die Flamme
     immer wieder aus. Er nahm ihr das Feuerzeug ab, legte die Hände schützend zusammen und gab ihr Feuer.
    »Ach ja, natürlich. Das ist Vergangenheit. Jetzt sehe ich ja richtig gut aus, ich sollte zum Film gehen!«
    »Sie haben mir noch immer nicht verziehen, oder?«
    »Was kümmert es Sie, ob ich Ihnen verzeihe oder nicht?Was spielt das für eine Rolle? Ich bin ein Niemand. Man hat mich eingeschläfert wie eine Laborratte, ohne mir etwas zu erklären,
     und als ich mit verbundenem Gesicht aufwachte, hat man mir sonst was erzählt. Man hat sich nicht mal die Mühe gemacht, sich
     eine mehr oder weniger glaubwürdige Lüge auszudenken.«
    »Hat Oberst Raiski Ihnen etwa noch immer nichts erklärt?«, fragte Julia leise.
    »Ich habe ihn nach der Operation noch kein einziges Mal gesehen. Er will mich mürbe machen. Ich weiß Bescheid. Eine alte,
     erprobte Methode.«
    »Ja, wahrscheinlich.« Sie nickte. »Nichts ist so quälend wie die Ungewissheit. Man will Ihnen einreden, dass Sie nicht sich
     selbst gehören. Aber Sie sind Soldat und gewöhnt, sich Befehlen unterzuordnen. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum er
     das mit Ihnen macht. Ich habe mich noch nie so mies gefühlt.«
    »Und was hat Sie gehindert, sich zu weigern, Doktor? Sie sind doch eine Zivilperson. Oder irre ich mich?«
    »Sie irren sich nicht, Sergej.« Sie strich mit der Hand über die nassen Sträucher, dann über ihr Gesicht und sah ihn von unten
     herauf an.
    »Sie müssen auf meine Frage nicht antworten. Man hat Sie bezahlt. Sie ziehen Ihr Kind allein groß, Sie brauchen das Geld.«
    »Danke für die guten Worte«, sagte sie spöttisch, »ich kann Ihnen versichern, man hat mir genauso viel gezahlt, wie ich für
     eine solche Operation in meiner Klinik bekommen hätte. Ich verdiene genug, um mich und mein Kind zu ernähren.«
    »Schon gut. Wie gesagt, Sie müssen mir meine Frage nicht beantworten. Entschuldigen Sie.«
    Plötzlich knirschte der Kies hinter ihnen laut. Sie drehten sich um.

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