Der falsche Engel
dass Julias Hupsignal nur
der Wache galt, die das Tor öffnen sollte.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Gerassimows zweistöckige Villa lag auf dem Gipfel eines steilen Felsens; die halbrunde Fassade ging auf das offene Meer hinaus.
Das Schlafzimmer lag im zweiten Stock. Vom Fenster aus hatte man einen herrlichen Blick: Meer und Himmel, geteilt durch die
Linie des Horizonts. Wenn diese einzige Orientierung in nächtlicher Dunkelheit oder im Nebel verschwamm, konnte man einen
Augenblick lang glauben, in der Schwerelosigkeit zu schweben.
Die Tür wurde lautlos geöffnet, und das Dienstmädchen Oxana kam herein – hellblond, klein, mit schlanker Taille und vollen
Waden.
Die Gerassimows nahmen sie immer mit hierher.
Ein paar Sekunden lang lauschte Wladimir ihrem leisen, taktvollen Atmen.
»Ich schlafe nicht, mein Kind«, sagte er, »komm ruhig rein, genier dich nicht.«
»Guten Morgen.« Ihre Stimme klang wie fernes, trockenes Rascheln. Er bemerkte, dass sie seinen Blick mied, und fragte rasch
und gleichgültig: »Stas ist nicht aufgetaucht?«
Sie seufzte und schüttelte den Kopf.
»Tja, Zeit zum Aufstehen.« Wladimir setzte seine dünnen, unbehaarten Beine auf den Boden. Oxana reichte ihm rasch den Bademantel
und wandte sich ab.
Draußen, direkt vorm Fenster, schrie eine Möwe unangenehm laut und durchdringend. Hinter der Wand hörte Wladimir ein leichtes
Gummiquietschen. Einen Augenblick lang sah er deutlich vor sich, wie der Bodyguard Nikolai den Sessel näher zum Fernseher
rollte und, ohne hinzusehen, auf dem kleinen Tisch nach der Fernbedienung tastete.
»Was mag passiert sein, dass unser Nikolai die Zwölfuhrnachrichten ganze fünf Minuten zu spät einschaltet?«, fragte Wladimir
laut und zwinkerte Oxana zu. Sie lächelte mit geschlossenen Lippen und sah nun aus wie ein grellrosa Spielzeugfrosch. »Na
klar, er hat gestern Abend zu viel Hummer in sich reingestopft und wahrscheinlich eine schlaflose Nacht verbracht.«
Während des Urlaubs im Ausland war das Verhältnis zwischen den Gerassimows und ihren Angestellten familiärer und unkomplizierter
als in Moskau.
Wladimir ging ins Bad und hörte, als er bereits die Tür schloss, das Telefon klingeln. Oxana nahm ab, und ihr ruhiger Ton
sagte ihm, dass dies nicht der Anruf war, auf den er schon seit zwei Tagen wartete.
Stas war mit dem Motorrad weggefahren, hatte gesagt, er sei am Abend zurück, und war seitdem verschwunden. Hier auf Korfu
sorgte sich Wladimir nicht um das Leben seines Sohnes. Dass Stas mit den Eltern nach Griechenland gefahren war, wusste kein
Außenstehender. Doch den General ärgerten die Dreistigkeit und die Gleichgültigkeitseines Sohnes. Nach allem, was passiert war, nach den langen, ernsten Gesprächen, nach all seinen Beteuerungen: »Ich habe
verstanden … Das kommt nicht mehr vor!«, hatte Stas erneut sein Telefon abgeschaltet und ließ mit dumpfer Sturheit nichts
von sich hören.
Der General warf vor der Spiegelwand den Bademantel ab. Im hellen Licht wirkte seine Haut schrecklich blass, fast grünlich.
Die Ärzte hatten ihm das Sonnenbaden verboten, die Sonnenstrahlung war dieses Jahr zu intensiv. Zum ersten Mal war er noch
kein einziges Mal an seinem Strand gewesen, noch nicht ins Meer getaucht.
Wladimir stellte sich auf die Waage. Der Zeiger zitterte und verharrte schließlich auf achtzig. In den letzten zwei Wochen
hatte er zehn Kilo abgenommen. Kein Wunder. Er hatte enormen Stress gehabt. Doch nun könnte er sich allmählich beruhigen.
Vor seiner Abreise hatte er Oberst Raiski fünfzigtausend Dollar in bar übergeben. Jetzt handelte der Oberst nicht mehr als
sein Freund und ehemaliger Untergebener, sondern als sein bezahlter Angestellter. Das war immer sicherer. Raiski hatte den
General davon informiert, dass ein Doppelgänger für Stas geschaffen worden sei. Ein Militär, ein Major, ein Profi, der den
Angriff auf sich lenken sollte. Er würde eine Zeitlang Stanislaws Stelle einnehmen.
Das war mehr, als der General von seinem ehemaligen Untergebenen erwartet hatte. Doch das tat Raiski natürlich nicht nur,
um seinen Lohn abzuarbeiten – er verfolgte auch eigene Ziele. Er träumte vom Generalsrang, und der wäre ihm für den lebenden
Ismailow sicher.
Um das Leben seines Sohnes sorgte sich Wladimir also nun weit weniger. Doch den Stress hatte eine Depression abgelöst. Der
General lag tagelang auf dem Sofa im Wohnzimmer und schaute an die Decke, oder er saß da und starrte
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