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Der falsche Freund

Titel: Der falsche Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Strukturen aufwies. Nun brauchte es nur noch versiegelt zu werden. Ich stand auf, zog mir Ohrenschützer und Gesichtsmaske vom Kopf und schüttelte mich wie ein gerade aus dem Wasser kommender Hund. Dann öffnete ich die großen Fenster, um die Frühlingsluft und die Geräusche der Stadt hereinzulassen. Nachdem ich einen Großteil des Sägemehls mit dem Besen entfernt hatte, saugte ich den Boden noch gründlich ab, wobei ich darauf achtete, dass ich mit der Düse in alle Ecken und Winkel gelangte. Anschließend zog ich die Laken von den Bücherregalen und begann sie ebenfalls abzusaugen, indem ich mit der Düse zwischen den einzelnen Bänden entlangfuhr und die Oberseite der Bücher von einer feinen Staubschicht befreite.
    Der Mann besaß seltsame Bücher. Das unterste Regalfach enthielt die üblichen Nachschlagewerke – zwei dicke Atlanten, mehrere Wörterbücher und Enzyklopädien, ein großes Buch über Raubvögel, ein weiteres über seltene Bäume, aber als ich mit dem Staubsauger das nächste Fach in Angriff nahm, entdeckte ich dort Titel wie Suchtverhalten, Mütterliche Ambivalenz, Psychotische Zustände bei Kindern, Erotische Obsession aus dem Blickwinkel der Forensik und einen dicken grünen Band mit dem Titel Das Handbuch der klinischen Psychopharmakologie. Ich schaltete den Staubsauger aus, zog ein Buch mit dem Titel Erotomanie und die Sexualisierung der Folter heraus und schlug es an einer beliebigen Stelle auf.
    »Innerhalb der Struktur der Destruktion«, stand da, »gilt es prinzipiell zu differenzieren zwischen den Komplexitäten dieser Konstellation …« Ich rieb über mein staubiges Gesicht. Was um alles in der Welt sollte das heißen? Da schwirrte einem ja schon nach einem halben Satz der Kopf. Ich ließ mich auf dem Boden nieder und blätterte weiter. Karl Marx wurde zitiert: »Es gibt nur ein einziges Mittel gegen geistiges Leiden, und das ist körperlicher Schmerz.« Stimmte das?
    Hinter mir bewegte sich etwas. Überrascht blickte ich mich um. Ich hatte angenommen, dass der Wohnungseigentümer in der Arbeit war. Wie sich nun herausstellte, war er nicht nur zu Hause, sondern trug zu allem Überfluss auch noch einen altmodischen gestreiften Flanellschlafanzug. Es war mir unbegreiflich, wie es ihm gelungen war, die Schleifaktion, die ich in seiner Wohnung veranstaltet hatte, einfach zu verschlafen.
    Er sah aus, als wäre er gerade aus einem monatelangen Winterschlaf erwacht. Das Wort »zerzaust« reichte nicht aus, um den Zustand seiner langen dunklen Locken zu beschreiben.
    Dass er sich nun mit der Hand durchs Haar fuhr, machte es noch schlimmer.
    »Ich bin auf der Suche nach einer Zigarette«, erklärte er.
    Ich reichte ihm eine Packung, die ich im Bücherregal entdeckt hatte.
    »Feuer bräuchte ich auch.«
    Auf einer Lautsprecherbox fand ich eine Schachtel Streichhölzer. Er zündete sich eine Zigarette an, nahm ein paar Züge und blickte sich dann im Raum um.
    »Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass ich in der falschen Wohnung bin«, meinte ich.
    »Sie sind nicht Bill«, stellte er sehr richtig fest.
    »Nein«, antwortete ich. »Er hat den Auftrag an mich weitergegeben.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Habe ich Sie aufgeweckt? Mir war nicht klar, dass Sie hier sind.«
    Er starrte mich verblüfft an. Anscheinend war ihm selbst auch nicht so ganz klar, dass er hier war.
    »Ich bin gestern sehr spät ins Bett gekommen«, erklärte er.
    »Dafür habe ich meinen ersten Termin heute erst um zwölf.«
    Ich sah erneut auf die Uhr.
    »Ich hoffe, es ist nicht weit«, sagte ich. »Sie haben nämlich nur noch fünfunddreißig Minuten.«
    »Es ist ganz in der Nähe«, antwortete er.

    »Sie werden wahrscheinlich trotzdem zu spät kommen.«
    »Das geht nicht«, entgegnete er. »Auf mich wartet ein ganzer Saal voller Leute, denen ich was erzählen soll.«
    »Sie halten einen Vortrag?«
    Er zog wieder an seiner Zigarette, schnitt eine Grimasse und nickte.
    »Finden Sie das Buch interessant?«, fragte er.
    »Ich habe nur …« Ich starrte einen Moment auf das Buch in meiner Hand, dann schob ich es zurück an seinen Platz.
    »Kaffee?«, fragte er.
    »Nein, danke.«
    »Ich habe damit eigentlich gemeint, ob Sie mir vielleicht welchen machen könnten! Während ich mich anziehe?«
    Ich war versucht zu antworten, dass ich nicht sein Butler sei, aber hier handelte es sich offensichtlich um einen Notfall.

    Er nahm einen Schluck Kaffee, der kochend heiß war, und verzog das Gesicht.
    »Sie haben noch fünfundzwanzig

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