Der falsche Freund
Sichtweite war, dann überquerte ich die Straße und steuerte auf die Tür zu. Nervös fuhr ich mir mit der Hand durchs Haar, holte tief Luft und läutete. Eine ganze Weile kam keine Reaktion, und ich fragte mich, ob sie womöglich schon lange vor Brendan das Haus verlassen hatte, aber dann hörte ich jemanden die Treppe herunterkommen. Die Tür ging nur einen Spalt weit auf. Naomi war im Bademantel und hatte ein Handtuch um ihr Haar geschlungen. In diesem Aufzug wirkte sie noch jünger als sonst.
»Ja?«, fragte sie und spähte zu mir heraus. »Kann ich …?«
Verblüfft hielt sie inne. Offenbar hatte sie mich erkannt.
»Sind Sie nicht die Frau aus dem Crabtrees?«, fragte sie.
»Ja. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfalle. Ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen.«
»Das verstehe ich nicht. Was tun Sie hier? Woher wissen Sie überhaupt, wo ich wohne?«
»Darf ich kurz reinkommen? Dann könnte ich es Ihnen erklären. Es dauert wirklich nur ein paar Minuten.«
»Wer sind Sie?«
»Bitte lassen Sie mich kurz …«
»Sagen Sie mir erst, wie Sie heißen.«
»Miranda«, antwortete ich. Ich sah, wie ihre Augen sich weiteten, und fluchte innerlich. »Sie haben vielleicht schon von mir gehört.«
»O ja. Von Ihnen habe ich allerdings schon eine ganze Menge gehört«, erwiderte sie in feindseligem Ton. »Ich glaube, Sie gehen jetzt besser wieder.«
Sie wollte die Tür zuschieben, aber ich hielt mit der Hand dagegen.
»Bitte. Bloß ganz kurz«, sagte ich. »Es ist wichtig. Ich wäre nicht hier, wenn es nicht wichtig wäre.«
Sie starrte mich an, biss sich zögernd auf die Lippe.
»Es dauert wirklich nicht lang«, beteuerte ich. »Aber ich muss Ihnen unbedingt etwas sagen. Bitte!«
Schließlich ließ sie mich achselzuckend hinein.
»Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, was Sie mir zu sagen haben könnten.«
Ich folgte ihr die Treppe hinauf in ihr winziges Wohnzimmer.
Auf dem Tisch stand ein Marmeladenglas mit einem ausladenden Strauß Glockenblumen, daneben lagen ein paar medizinische Bücher. Über dem Stuhl hing eine Herrenlederjacke. Naomi stemmte die Hände in die Hüften und musterte mich, bot mir aber keinen Platz an.
»Ich weiß nicht, was Sie alles über mich gehört haben«, begann ich.
»Mir ist bekannt, dass Sie mit Ben zusammen waren«, erklärte sie. Ich blinzelte sie einen Moment verwirrt an. Demnach nannte er sich jetzt also Ben. »Und ich weiß, dass Sie es nicht akzeptieren konnten, als er das Ganze beendete. Dass Sie ihm eine Weile das Leben zur Hölle gemacht haben.«
»Was ist mit Laura?«, fragte ich. »Hat er Ihnen auch von ihr erzählt?«
»Natürlich. Laura war seine Frau. Ihr Tod hat ihm das Herz gebrochen.« Ich sah, wie sich ihre sanften grauen Augen mit Tränen füllten. »Er hat mir alles erzählt. Der arme Ben.«
»Und das mit Troy? Das hat er Ihnen sicher auch gesagt, oder?«, fragte ich schroff.
»Er hat deswegen immer noch Albträume.«
»Naomi, hören Sie mir zu. Sie wissen nicht, worauf Sie sich da einlassen. Brendan – Ben – irgendwas stimmt mit ihm nicht. Ich meine … er tickt nicht ganz richtig.«
»Wie können Sie es wagen! Ausgerechnet Sie! Er hat in seinem Leben mehr gelitten, als ein Mensch eigentlich ertragen kann, aber es hat ihn trotzdem nicht verbittert oder verschlossen gemacht. Er spricht sogar nett über Sie. Er versteht, warum Sie sich so benommen haben.«
»Das meiste, was er sagt, ist erfunden.«
»Nein.«
»Doch, Naomi, er lügt. Aber das ist noch nicht alles.«
Mir war fast übel, so frustriert und elend fühlte ich mich.
»Ich möchte nichts mehr davon hören.«
Nun hielt sie sich tatsächlich die Ohren zu. Ich sprach lauter.
»Ich glaube, Sie sind in Gefahr.«
»Sie sprechen über den Mann, den ich liebe.«
»Hören Sie mir zu. Bitte hören Sie sich an, was ich zu sagen habe. Dann gehe ich wieder. Aber bitte hören Sie mir zu, Naomi. Bitte.«
Ich legte meine Hand auf ihren Arm. Als sie ihn wegzuziehen versuchte, verstärkte ich meinen Griff.
»Ich glaube nicht, dass sie dir zuhören will. Niemand will dir mehr zuhören, stimmt’s? Hmm? Und jetzt lass sie sofort los.«
Ich drehte mich um.
»Brendan«, sagte ich.
»Ben«, sagte Naomi. »Oh, Ben!«
Sie lief zu ihm und schlang die Arme um ihn.
»Ich frage mich, wie du mich gefunden hast. Das war bestimmt nicht einfach.«
Ich warf einen schnellen Blick zu Naomi. Der einzig klare Gedanke, den ich in dem Moment fassen konnte, war, dass ich sie in meinem
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