Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der falsche Freund

Titel: Der falsche Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
einander hektische Anweisungen zuriefen, dann aber plötzlich langsam und still wurden, weil wir alle zu spät gekommen waren und es keinen Grund zur Eile mehr gab. Unter den Menschen, die ein und aus liefen, befanden sich auch ein Polizist und eine Polizistin. Sie mussten ebenfalls sehr schnell eingetroffen sein. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, konnte aber nicht richtig erkennen, wie spät es war. Ich hatte den Eindruck, als wären die Zahlen zu weit weg und außerdem durcheinander geraten.
    Jemand reichte mir eine Tasse mit einer heißen Flüssigkeit, an der ich mir die Lippen verbrannte. Es war ein gutes Gefühl. Ich wollte, dass es wehtat. Ich wollte wieder etwas spüren, aus dieser Taubheit erwachen.
    Ich hatte mit meiner Mutter telefoniert. Das war mit das Erste gewesen, was ich getan hatte. Zunächst hatte ich vorgehabt, es ihr schonend beizubringen. So wäre es am besten gewesen. Ich wollte so etwas sagen wie: »Troy geht es sehr schlecht. Sehr, sehr schlecht.« Das hätte es für sie eventuell leichter gemacht, aber ich war dazu einfach nicht in der Lage. Er war zu kalt und tot, seine offenen Augen zu leer. Deswegen konnte ich nur sagen, dass Troy tot sei und sie vielleicht kommen sollten, dass es aber nicht unbedingt nötig sei, weil ich mich auch allein um alles kümmern könne. Ich hörte sie nach Luft schnappen und dann stammelnd Fragen stellen. »Tot? Bist du sicher?« Dann hörte ich nur noch ein Stöhnen. Schließlich meinte sie, sie habe geglaubt, Troy gehe es besser, so was in der Art, aber ich glaube, ich ließ sie nicht ausreden, weil ich mich sowieso nicht auf das konzentrieren konnte, was sie sagte.
    Eine Hand legte sich auf meinen Arm, ein weibliches Gesicht schob sich vor meines. Es war eine Polizistin, jünger als ich, mit einem blassen Gesicht und roten Flecken auf den Wangen, die wie Ausschlag aussahen. Sie fragte mich, ob es einigermaßen gehe. Ich nickte. Dann wollte sie Einzelheiten wissen. Troys Namen. Sein Alter. Meinen Namen. Ich spürte, wie die Wut in mir aufstieg. Wie konnten sie mir in einem solchen Moment so blöde Fragen stellen? Dann riss ich mich zusammen, weil mir bewusst wurde, dass diese Fragen nun mal gestellt werden mussten. Ich sah die Situation plötzlich aus dem Blickwinkel dieser jungen Polizistin. Sie machte hier nur ihren Job.
    Bestimmt wurde sie ständig zu einem solchen Einsatz gerufen, genau wie die Leute mit der grünen Uniform. Sie taten, was zu tun war, und abends fuhren sie nach Hause und sahen fern. Die Beamtin war wahrscheinlich speziell dafür ausgebildet, mit Menschen wie mir umzugehen. Für sie war ich bloß eine von vielen, mit denen sie sich herumschlagen musste, eine von vielen, für die diese Situation völlig neu war. Wahrscheinlich fragte sie sich gerade, ob ich zu der Sorte gehörte, die Probleme machte. Bestimmt war es mit manchen Menschen sehr schwierig, viele weinten vermutlich, andere waren wie betäubt und konnten nicht sprechen. Und es waren sicher auch welche dabei, die ausflippten oder sogar gewalttätig wurden. Zu welcher Sorte würde ich gehören?
    Es würde so vieles zu organisieren sein, dachte ich. Formulare waren auszufüllen, Briefe zu versenden, Verwandte und Bekannte zu informieren. In dem Moment traf es mich wie eine Welle, die durch alle Zellen meines Körpers lief. Ich musste den Mund weit aufreißen und nach Luft schnappen, als wäre in meiner Wohnung plötzlich der Sauerstoff knapp geworden.

    Mein Kopf fühlte sich seltsam leicht an, und ich begann zu schwanken. Wieder tauchte der Kopf der Frau vor meinem Gesicht auf.
    »Ist Ihnen nicht gut, Miranda?«, erkundigte sie sich, während sie mir die Tasse aus der Hand nahm. Ein Teil der heißen Flüssigkeit war bereits auf meiner Hose gelandet. Einen Moment lang hatte ich die Hitze auf meiner Haut gespürt, aber inzwischen waren die Flecken kalt. »Miranda? Ist Ihnen schlecht?«
    Ich sagte nur: »Geht schon«, weil ich ihr nicht vermitteln konnte, wie ich mich wirklich fühlte, nachdem mich gerade die schreckliche Erkenntnis getroffen hatte, dass dies das Ende von Troys Geschichte war. Mir schwirrte der Kopf vor lauter Erinnerungen an ihn: Ich sah ihn als kleinen Jungen vor mir, wie er am Strand auf einer Sandburg thronte. Wie er als Schulanfänger mit einer Zahnlücke nach Hause kam, nachdem er beim Spielen auf dem Pausenhof gegen einen Zaun gerannt war. Wie er jedes Mal auf seiner Unterlippe herumbiss, wenn er zeichnend oder malend über ein Blatt Papier gebeugt

Weitere Kostenlose Bücher