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Der falsche Freund

Titel: Der falsche Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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überdimensionales Federmäppchen. Ein anderer der Männer blickte verlegen zu mir auf, als wäre er im Begriff, etwas sehr Ungehöriges zu tun. Es war für mich in der Tat ein schlimmer Augenblick. Sie fassten ihn an Füßen und Schultern und hievten ihn auf den Plastiksack.
    Es dauerte eine Weile, bis sie ihn richtig darin verstaut hatten.
    Anschließend mussten sie noch das lose Ende der Schnur hineinschieben, die er um den Hals hatte. Dann wurde der große Reißverschluss zugezogen. Nun konnte er in den Krankenwagen transportiert werden, ohne dass die Öffentlichkeit über seinen Anblick erschrak.
    In dem Moment hörte ich draußen Stimmen, und meine Eltern kamen zur Tür herein. Sie blickten sich um, als wären sie gerade aufgewacht und wüssten noch nicht so recht, wo sie sich befanden oder was gerade passierte. Sie wirkten beide um Jahre gealtert. Mein Vater war im Anzug. Anscheinend kam er direkt von der Arbeit und hatte nur einen Zwischenstopp eingelegt, um meine Mutter abzuholen. Mums Blick fiel auf den Plastiksack.
    Das war wieder einer der besonders schlimmen Momente. Sie wirkte geschockt und ungläubig, als könnte sie die brutale Realität des Ganzen noch gar nicht fassen. Nachdem der Detective sich vorgestellt hatte, entfernten sich er und mein Vater ein paar Schritte und sprachen leise miteinander. Ich empfand ein Gefühl der Erleichterung. Nun konnte ich wieder Kind sein. Mein Dad würde sich um alles kümmern. Ich brauchte niemanden anzurufen und keine Formulare auszufüllen, meine Eltern würden diese Dinge erledigen.
    Meine Mutter kniete neben dem Bündel nieder, das einmal Troy gewesen war. Ganz sanft legte sie ihre Hand auf die Stelle, wo sich seine Stirn befinden musste. Ich sah, dass sie die Lippen bewegte, konnte aber nichts hören. Sie blinzelte ein paarmal, stand dann auf und kam zu mir. Mir fiel auf, dass sie nicht über Troys Körper stieg, sondern umständlich um ihn herumging.
    Dabei ließ sie ihn keine Sekunde aus den Augen, als wäre er ein Abgrund, in den sie fallen könnte. Nachdem sie einen Stuhl herangezogen hatte, setzte sie sich neben mich und nahm meine Hand, sah mich aber nicht an. Als die Sanitäter schließlich das Bündel hochhoben, blickte ich zu meiner Mutter hinüber. Sie weinte nicht, aber ich sah, dass ihr Mund zitterte.

    Mein Vater verabschiedete sich von Rob Pryor, als hätte ihm der Detective Inspector geholfen, einen Reifen zu wechseln. Ich beobachtete, dass Pryor etwas auf ein Stück Papier schrieb und es meinem Vater reichte, dann gaben sie sich die Hand. Pryor ging, ebenso alle anderen, und wir blieben allein zurück. Ein seltsames Gefühl. War es das nun gewesen? Die Behörden hatten ihre Schuldigkeit getan, sie waren gekommen und hatten Troy mitgenommen, ihn irgendwo hingebracht. Und wir? Was sollten wir jetzt tun? Wollten sie denn nichts mehr von uns?
    Mussten wir nicht noch irgendwelche Pflichten erfüllen? Ich hatte mit meinen Eltern bis jetzt kein Wort gesprochen.
    »Troy«, sagte ich schließlich und schwieg dann wieder. Es gab nichts zu sagen und gleichzeitig doch so vieles.
    Ich rechnete irgendwie damit, dass meine Mutter nun wie ich zuvor in Tränen ausbrechen würde, sodass ich sie in den Arm nehmen konnte und uns das Reden oder Denken noch eine Weile erspart bleiben würde, aber sie starrte bloß weiterhin verwirrt vor sich hin. Mein Vater kam zu uns und ließ sich mir gegenüber nieder. Er machte einen sehr ruhigen Eindruck.
    »Kam das überraschend?«, fragte er.
    Am liebsten hätte ich geschrien: Ja, verdammt noch mal, natürlich kam das überraschend. Aber dann musste ich daran denken, dass meine Eltern gerade ein Kind verloren hatten, und sagte bloß: »Ja.«
    »Hat es irgendwelche Anzeichen gegeben, die wir hätten erkennen müssen?«
    »Wir haben doch sein ganzes Leben lang Anzeichen gesehen«, antwortete ich. Sein ganzes Leben lang. Die Bedeutung dieser Worte hatte sich verändert. Mum begann wie im Schlaf zu reden. Sie sprach über Troys Zustand während der letzten Wochen, dass es ihm schlecht gegangen sei, sie aber trotzdem geglaubt habe, dass es insgesamt besser geworden sei. Er habe doch früher schon wesentlich schlimmere Phasen durchgemacht und sich immer wieder gefangen. Sie habe sich bereits den Kopf zermartert, ob es irgendein Signal oder Anzeichen gegeben habe, aber ihr falle nichts ein. Dann sprach sie über die Vergangenheit, als Troy noch jünger war. Es handelte sich dabei nicht um wehmütige oder nostalgische Erinnerungen.

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