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Der falsche Freund

Titel: Der falsche Freund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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standen offen, starrten ins Leere. Mein Blick fiel auf den Strick, an dem er baumelte.
    Vielleicht lebte er ja noch. O Gott, vielleicht lebte er noch.
    Bitte, bitte, bitte! So schnell ich konnte, stellte ich den Stuhl auf und sprang hinauf, verlor vor lauter Aufregung fast das Gleichgewicht. Dann presste ich seinen Körper an mich, versuchte ihn anzuheben, damit ihm die Schlinge nicht mehr die Luft abschnürte, und bemühte mich, den Knoten zu lösen, aber meine Finger zitterten zu sehr. Ich spürte sein Haar an meiner Wange, seine kalte Stirn, seinen schlaffen Körper. Trotzdem können Menschen noch leben, auch wenn sie schon tot wirken.
    Man liest manchmal von Fällen, in denen jemand wiederbelebt wird, obwohl eigentlich schon gar keine Hoffnung mehr bestand. Aber ich konnte den Knoten nicht lösen, und er war so schwer und roch schon nach Tod. Nach Kot und nach Tod, und seine Haut war kalt.
    Ich sprang vom Stuhl, ließ seinen baumelnden Körper dort hängen und raste in die Küche. Das Brotmesser lag in der Spüle.
    Ich griff danach und rannte zu Troy zurück. Rasch stieg ich wieder auf den Stuhl, stellte mich auf die Zehenspitzen und begann an der Schnur zu säbeln, während ich erneut versuchte, seinen Körper hochzustemmen. Plötzlich war er frei, und wir stürzten gemeinsam zu Boden. Sein Körper lag auf meinem.
    Ich schob ihn von mir herunter und robbte zum Telefon, wählte voller Panik die Notrufnummer.
    »Hilfe!«, stieß ich hervor. »Hilfe! Er hat sich aufgehängt! Bitte kommen Sie, und helfen Sie mir! Was soll ich tun?«
    Die Stimme am anderen Ende der Leitung blieb ruhig. Sie stellte mir Fragen, ich stammelte Antworten, und die ganze Zeit lag Troy nur eine Armlänge von mir entfernt. Ich fragte immer wieder: »Aber was soll ich tun, was soll ich tun?«
    »Die Notfall-Einsatzkräfte werden so schnell wie möglich bei Ihnen eintreffen«, antwortete die Stimme.
    »Soll ich Mund-zu-Mund-Beatmung machen? Wie kann ich sein Herz wieder in Gang bringen? Sagen Sie mir, was ich tun soll!«
    Während ich sprach, sah ich zu Troy. Seine Haut war kalkweiß, abgesehen von den blauen Rändern um seine Lippen.
    Die Zunge hing ihm ein wenig aus dem Mund. Seine offenen Augen blickten ins Leere. Die Schlinge lag inzwischen ganz locker um seinen Hals, aber dort, wo sie ihn eingeschnürt hatte, war die Haut blutunterlaufen. Mein kleiner Bruder.
    »Beeilen Sie sich!«, flüsterte ich ins Telefon. »Beeilen Sie sich!«
    Nachdem ich aufgelegt hatte, kroch ich zu ihm zurück. Ich bettete seinen Kopf in meinen Schoß und strich ihm das Haar aus der Stirn. Dann beugte ich mich zu ihm hinunter und küsste ihn erst auf die Wangen, dann auf den Mund. Ich griff nach seiner kalten Hand, legte sie zwischen meine beiden warmen Hände. Ich sah, dass an seinem Hemd ein Knopf offen war, und machte ihn zu. In einer Minute würde ich nach dem Telefon greifen und meine Eltern anrufen. Wie sagte man: »Euer Sohn ist tot!«? Der Gedanke war so entsetzlich, dass ich für einen Moment die Augen schloss.
    Als ich sie wieder öffnete, fiel mein Blick auf seinen Pulli, der über der Rückenlehne des Sofas hing. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch. An der Wand tickte die Uhr vor sich hin.
    Ich betrachtete die Zeiger: fünfundzwanzig Minuten nach sechs.
    Wenn es doch nur möglich wäre, sie so weit zurückzudrehen, dass Troy noch nicht mit der Schlinge um den Hals auf den Stuhl gestiegen wäre. Wenn ich doch nur eher gekommen wäre.
    Wenn ich, statt eine Käsesemmel zu essen, meine Buchhaltung zu machen und im warmen Büro herumzutrödeln, doch gleich in meine Wohnung gefahren wäre. Ich ließ die Finger durch sein Haar gleiten. Nichts würde jemals wieder sein, wie es war.
    Als es an der Tür klingelte, legte ich Troys Kopf ganz sanft zurück auf den Teppich und stand auf, um sie hereinzulassen.
    Während sie sich um Troy scharten, griff ich nach dem Telefon.
    »Mum«, begann ich. Ohne ihr Zeit zu lassen, sich nach meinem Befinden zu erkundigen oder mir irgendeine von ihren Neuigkeiten zu erzählen, sagte ich: »Hör zu …«

    21. KAPITEL
    Alles erschien mir zusammenhanglos, verzerrt, in einem seltsamen Licht, wie einer fremden Sprache zugehörig. Meine Wohnung fühlte sich nicht mehr wie die meine an. Mir war, als befände ich mich draußen auf der Straße, kurz nachdem ein Unfall passiert war. Menschen, die nichts mit mir zu tun hatten, liefen ein und aus, darunter drei Personen in grünen Overalls, die sich erst sehr schnell bewegten und

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