Der falsche Freund
saß. Ich erinnerte mich an seine guten Phasen, wenn er seine Lachanfälle hatte und wie ein Besessener auf dem Boden herumtollte oder wenn seine Augen zu funkeln begannen, weil er vor neuen Ideen nur so sprudelte und gar nicht wusste, von welcher er zuerst erzählen sollte. Und an die anderen, weitaus häufigeren Phasen, wenn er apathisch auf seinem Bett lag und dreinblickte wie drei Tage Regenwetter und keiner von uns an ihn herankam. Seine langen, zarten weißen Finger und seine großen Augen, die manchmal fast zu groß für sein Gesicht zu sein schienen. All die Gespräche, die in seiner Abwesenheit über ihn geführt wurden, das Problemkind Troy. Das war mir aus meiner Jugendzeit mit am deutlichsten in Erinnerung geblieben: der gequälte Gesichtsausdruck meiner Mutter, wenn sie ihn ansah. Was sollen wir bloß mit Troy machen? Sie hatten so vieles versucht.
Sie waren mit ihm zum Arzt und zum Therapeuten gegangen.
Sie hatten versucht, ihm seine Ruhe zu lassen, ihm Mut zu machen, wenn es ihm schlecht ging. Sie hatten es mit Drohungen versucht, mit Schreien und Weinen. Zeitweise hatten sie auch versucht, so zu tun, als wäre alles ganz normal.
Tausende von Erinnerungen wirbelten durch meinen Kopf, unzählige Bruchstücke von Geschichten. All die Wege von all diesen Erinnerungen führten in meine Wohnung, zu einem Strick und einem Balken und diesem Ding auf meinem Boden, das Troy war und zugleich nicht mehr Troy, und um das sich nun fremde Leute scharten.
Wieder erschien das Gesicht der Polizistin vor mir. Sie hielt einen ganzen Berg Papiertaschentücher in der Hand. Erst jetzt merkte ich, dass ich hemmungslos vor mich hin schluchzte und die Leute in meiner Wohnung mich verlegen anstarrten. Ich versteckte mein Gesicht hinter den Taschentüchern, wischte die Tränen weg und putzte mir die Nase. Ich konnte einfach nicht aufhören zu weinen. Wir hatten versagt, wir hatten alle versagt.
Es war, als hätten wir mein ganzes Leben lang zugesehen, wie Troy langsam ertrank. Wir hatten dieses und jenes unternommen, wir hatten geredet, uns Sorgen gemacht, uns immer wieder überlegt, wie wir ihm helfen könnten, aber am Ende hatte alles nichts genützt, er war trotzdem untergegangen.
Allmählich ließ mein Schluchzen nach. Ich fühlte mich seltsam leer, wie ausgepresst.
Die Polizistin sagte mir, dass sie Vicky Reeder heiße. Neben ihr stand ein Mann im Anzug, den sie mir als Detective Inspector Rob Pryor vorstellte. Er bat mich, ihm zu berichten, wie ich Troy gefunden hatte. Ich war überrascht über die Ruhe und Präzision, mit der ich ihm antwortete. Während ich sprach, nickte er immer wieder. Alles, was ich zu sagen hatte, lag ohnehin auf der Hand. Danach nahmen er und ein Mann in Uniform den Balken in Augenschein, auf den ich in meiner Aufregung überhaupt nicht geachtet hatte. Als der Detective zu mir zurückkam, sprach er in leisem, respektvollem Ton, als wäre er nicht Polizist, sondern Leichenbestatter. Mir wurde bewusst, dass ich nun zu einer ganz besonderen Spezies gehörte, und zwar der der Hinterbliebenen, die dem normalen Leben vorübergehend ein Stück entrückt sind und mit Respekt, ja sogar einer gewissen Ehrerbietung behandelt werden müssen. Er erklärte mir, dass sie nun Troys Leiche wegbringen würden. Das könnte mich unter Umständen aufregen, fuhr er fort, und vielleicht wolle ich lieber für ein paar Minuten in ein anderes Zimmer gehen. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte alles sehen.
Ich zwang mich, Troy anzuschauen. Er trug seine khakifarbene Hose und einen marineblauen Pulli, dazu seine alten Stiefel, die mir so vertraut waren. Über ihren Rand sah ich seine fröhlichen rot-blau gestreiften Socken hervorspitzen. Ich musste daran denken, wie er sie am Morgen angezogen hatte. Ob er da schon gewusst hatte, dass er sie nie wieder ausziehen würde? Stand sein Entschluss da schon fest, oder war es aus einem spontanen Impuls heraus geschehen? Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn ich ihn nachmittags noch einmal angerufen und ausgiebig mit ihm geplaudert hätte? Ich musste aufhören, solche Sachen zu denken. Er war mein Bruder, er war in meiner Wohnung gestorben, und ich war nicht da gewesen. Ich fragte mich, was ich wohl in dem Moment getan hatte, als der Stuhl umgekippt war und er jene letzten Sekunden in der Luft zappelte. Nein. Ich musste aufhören, mich mit solchen Gedanken zu quälen.
Einer der Sanitäter rollte neben Troy einen großen Plastiksack auseinander. Das Ding sah aus wie ein
Weitere Kostenlose Bücher