Der falsche Freund
Vortag. Auf dem Gehsteig lag Frost, und sämtliche Autofenster waren vereist. Einen kurzen Moment ging mir durch den Kopf, dass mein Vorhaben etwas Masochistisches hatte. Statt mich wie eine mittelalterliche Nonne zu kasteien, sollte ich lieber wieder ins warme Bett gehen
– oder zumindest zurück auf die Ausziehcouch. Rasch schob ich den Gedanken beiseite, zog die Tür hinter mir zu und begann meinen Lauf, der mich durch kleine Nebenstraßen in den Park führen würde.
Ich war schon lange nicht mehr gelaufen. Anfangs fror ich und fühlte mich noch ein wenig steif, aber dann fand ich allmählich meinen Rhythmus, und während ich so dahinjoggte – vorbei am Zeitungshändler, der gerade seine Metallrollläden hochzog, vorbei an der verwaisten Grundschule und der Wertstoffsammelstelle –, wurde die Morgendämmerung langsam vom Tag abgelöst. In den Häusern gingen die Lichter an, die Straßenlampen erloschen, und die ersten Wagen wurden, der Kälte wegen stotternd, angelassen. Der eben noch dunkelgraue Himmel hellte sich zusehends auf und bekam rosafarbene Streifen. Der Briefträger drehte bereits seine Runde.
Eine Frau, die drei riesige Hunde an der Leine führte, eilte an mir vorüber. Ich musste an die Leute denken, die sich gerade im Bett umdrehten und ihren Wecker abstellten, an die Kinder, die sich gähnend streckten und dann noch mal für ein paar Minuten unter ihre Bettdecke kuschelten, an prasselnde Duschen, dampfende Wasserkessel, knuspriges Brot … Und plötzlich überkam mich für einen Moment ein richtiges Glücksgefühl, durch die leeren Londoner Straßen zu laufen, während die aufgehende Sonne einen prächtigen Herbsttag verhieß.
Auf dem Rückweg machte ich kurz Halt und erstand eine Packung Speck und Weißbrot. In der Wohnung rührte sich noch niemand, sodass ich schnell unter die Dusche ging und mich dann anzog. Anschließend füllte ich den Kessel mit Wasser für den Kaffee und machte mich daran, den Speck zu braten. Die Schlafzimmertür ging auf, und Laura streckte verschlafen den Kopf heraus. Mit ihrem zerzausten Haar und den rosigen Wangen sah sie aus wie ein junges Mädchen. Sie schnüffelte und murmelte etwas, das ich nicht verstand.
»Kaffee und Sandwiches mit Speck«, verkündete ich.
»Möchtest du im Bett frühstücken?«
»Es ist Montagmorgen!«
»Ich dachte, wir sollten die Woche gut anfangen.«
»Wie lange bist du denn schon auf?«
»Ungefähr eine Stunde. Ich war joggen.«
»Warum bist du denn auf einmal so schwungvoll und fröhlich?«
»Ich nehme mein Leben wieder in die Hand«, erklärte ich.
»Das ist mein neues Ich.«
»Mein Gott!«, sagte sie und zog den Kopf zurück. Einen Moment später saß sie eingehüllt in einen dicken Bademantel bei mir in der Küche und sah zu, wie ich den Speck zwischen dicke Brotscheiben legte und Milch für den Kaffee heiß machte.
Nachdem ich ihr ein Sandwich gereicht hatte, biss sie vorsichtig ein kleines Stück ab. Ich stürzte mich hungrig auf meines.
»Was hast du denn heute für Pläne?«, fragte sie.
Ich schlürfte meinen Kaffee. Wohlige Wärme breitete sich in meinem Körper aus.
»Mir ist in der Nacht eine Idee gekommen. Ich werde alle Leute anrufen, von denen ich weiß, dass sie sich in der nächsten Zeit eine Weile im Ausland aufhalten wollen. Das sind eine ganze Menge. Viele unserer Kunden lassen irgendwelche Arbeiten an ihren Häusern machen, wenn sie nicht da sind. Ich werde fragen, ob jemand Interesse daran hat, dass ein zuverlässiges Paar in der Zwischenzeit auf ihr Haus aufpasst. Es ist eine Familie mit vielen Haustieren darunter, die sowieso zweimal am Tag gefüttert werden müssen. Vielleicht wären die Leute froh, Kerry und Brendan im Haus zu haben. Ich bin sicher, dass ich jemanden finden werde – das ist viel besser, als Unmengen von Zeitungsannoncen zu durchforsten.« Ich schenkte mir eine zweite Tasse Kaffee ein und griff nach einem weiteren Sandwich.
»Wenn sich die beiden nicht selbst um eine Übergangslösung bemühen, muss ich das eben für sie in die Hand nehmen«, fuhr ich fort. »Dann können Troy und ich uns wie geplant die Wohnung teilen. Außerdem muss ich heute mit Bill ins Reclamation Centre. Danach mache ich meine Buchhaltung, und wenn ich damit fertig bin, fahre ich in meine Wohnung, hol ein paar Sachen und sag den beiden, bis wann sie draußen sein müssen. Das war’s.«
»Puh! Da werde ich ja schon vom Zuhören müde.«
»Ihr seid mich also bald los.«
»Ich hab dich gern
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