Der falsche Freund
Das würde später kommen, dafür hatten wir noch den Rest unseres Lebens Zeit. Nein, sie sprach darüber, was sie alles für ihn getan und wie sie sich nach jedem gescheiterten Versuch gefragt hatten, ob sie es irgendwie anders hätten machen sollen. Aus ihren Worten sprach weder Selbstmitleid noch Bitterkeit, sondern echte Neugier, als könnten ich oder mein Vater ihr eine Antwort geben, die sie zufrieden stellen würde.
Dad wirkte auf eine verrückte Weise geschäftsmäßig.
Nachdem er Tee gemacht hatte, suchte er sich ein Stück Papier und einen Stift und begann aufzulisten, was alles zu tun war: Leute mussten informiert werden, vieles war zu organisieren.
Am Ende war eine ganze Seite mit seiner ordentlichen, geraden Handschrift bedeckt.
Nach all dem Schrecken nun auch noch diese seltsame Situation: Wir saßen zu dritt in meiner Wohnung, meine Mutter noch im Mantel, mein Vater mit seiner Liste. Es gab so viel zu erledigen, aber niemand machte Anstalten, etwas zu tun. Keiner wollte etwas essen, keiner irgendwohin fahren. Es gab eine Menge Leute, die davon erfahren mussten, aber das hatte noch Zeit. Es war, als müssten wir erst noch eine Weile hier zusammensitzen und das Geheimnis für uns behalten, ehe wir es in die Welt hinausposaunten. Ich war noch immer ganz erfüllt von der Schrecklichkeit des Geschehenen, so, als hätte ich die Finger in eine Steckdose gesteckt und würde nun immer wieder von neuem spüren, wie der Strom durch meinen Körper pulsierte.
Auf diese Weise vergingen Stunden, und es war schon kurz vor neun, als wir draußen auf der Treppe plötzlich jemanden reden und lachen hörten. Wenige Augenblicke später platzten Kerry und Brendan in den Raum. Sie wirkten überrascht, uns zu sehen.
»Was verschafft uns die Ehre?«, fragte Brendan mit einem Lächeln.
22. KAPITEL
Es war feucht und unnatürlich warm. In weniger als vier Wochen würde Weihnachten sein. In sämtlichen Hauptstraßen der Innenstadt hing schon die Weihnachtsdekoration: Santa Claus, Glocken, Disneyfiguren. In den Schaufenstern funkelten Lametta und anderes Glitzerzeug. Vor den Obst- und Gemüseläden lehnten die ersten verschnürten Christbäume.
Stechpalmenkränze zierten so manche Tür in meiner Straße. Die Tiefkühltruhen der Supermärkte waren voll gestopft mit Truthähnen, die Regale gefüllt mit Knallbonbons, Früchtebrot, Adventskalendern, abgepackten Datteln, riesigen Pralinenschachteln, Flaschen mit Portwein und Sherry, kleinen Körbchen mit Badesalz und Seifen, CDs mit Weihnachtsmusik, heiteren Büchern und billigen kleinen Geschenken für den Weihnachtsstrumpf. Vor Woolworth’s spielte eine Blaskapelle
»O Little Town of Bethlehem«. Frauen in dicken Mänteln klapperten in der Kälte mit Sammelbüchsen.
Was würden wir Weihnachten machen? Würden wir im halb abgerissenen Haus meiner Eltern einen Christbaum aufstellen?
Oder gar in meinem Wohnzimmer, wo sich vor neun Tagen mein Bruder Troy umgebracht hatte? Würden wir alle um einen Tisch herumsitzen und Truthahn mit Maronifüllung, Rosenkohl und Bratkartoffeln essen? Würden wir Knallbonbons aufziehen, uns alberne Hüte über den Kopf stülpen und einer nach dem anderen die Witze vorlesen? Konnten wir überhaupt irgendwie Weihnachten feiern, ohne dass es grotesk wirkte? Wie kann man jemals wieder zur Normalität übergehen, wenn etwas Derartiges passiert ist?
Zu Troys Beerdigung erschienen nicht allzu viele Leute. Er war ein einsamer Junge und ein eigenbrötlerischer junger Mann gewesen. Der Kontakt zu seinen wenigen Schulfreunden war abgerissen, nachdem er mit der Schule aufgehört hatte, auch wenn ein paar von ihnen mit dem stellvertretenden Direktor und Troys altem Physiklehrer auftauchten. Seine Privatlehrerin kam auch, außerdem mehrere Freunde der Familie, die Troy von klein auf gekannt hatten. Natürlich waren auch Bill, Judy und die Kinder da, ebenso Mums Schwester Kath, die mit ihrer Familie aus Sheffield angereist war, und ein paar andere Verwandte sowie Carol, eine Freundin Kerrys, außerdem noch Tony und Laura.
Und natürlich wir: Mum und Dad, ich und Kerry. Und Brendan. Brendan sah leidgeprüfter aus als wir alle, er hatte rote Augen und einen leichten Bluterguss an der Stirn, der sich langsam gelblich verfärbte. Sogar ich musste zugeben, dass er während der letzten Woche wundervoll gewesen war: unermüdlich, unverzichtbar, ein Fels in der Brandung.
»Wundervoll« in Anführungszeichen. Hinter Brendan steckte mehr, als ich zunächst gesehen
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