Der falsche Freund
vorzustellen. Der Strick. Es war leicht, sich an ihn zu erinnern; er hatte aus glänzend grünem, sprödem Kunststoff bestanden. Ich sah ihn noch genau vor mir, wie ich seine Fasern mit dem Messer durchtrennte, um Troy zu befreien. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass Selbstmord eine Aktion war, die vorbereitet werden musste. Man musste sie planen, das nötige Material besorgen.
Plötzlich hatte ich wieder einen völlig klaren Kopf. Als ich aufstand, verspürte ich noch einmal einen kurzen Anflug von Übelkeit und Schwindel, aber das ging schnell vorüber. Ich hatte keine Zeit, mich schlecht zu fühlen, es galt, ein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Meine Wohnung war so klein, dass es nicht viel zu durchsuchen gab. Ich konnte mich nicht daran erinnern, den Strick je zuvor gesehen zu haben, aber ich musste sichergehen. Unter der Spüle befanden sich ein Eimer, ein paar Putzlappen, mehrere Flaschen Reinigungsmittel, im Schrank der Staubsauger, ein Besen und ein Wischmopp, ein zusammengerollter Teppich, eine Schuhschachtel mit Schraubenziehern, einem Hammer, Nägeln, Schrauben und ein paar Dübeln. Ich sah auch in den obersten Fächern nach, hinter dem Sofa, unter meinem Bett, einfach überall. Kein Strick.
Womöglich hatte er bloß ein Stück Strick gefunden und die ganze Länge benutzt. Oder er hatte so viel gekauft, wie er brauchte, und die ganze Länge benutzt. Oder …
Ich rief meine Mutter an. Es war schwierig, nicht jeden Satz, den ich mit meiner Mutter, meinem Vater oder meiner Schwester sprach, mit der Frage zu beginnen, wie sie sich fühlten. Wir konnten den Rest unseres Lebens damit verbringen, uns das zu fragen und uns Antworten auf diese Frage zu überlegen. Diesmal fragte ich nur, ob ich vorbeikommen könne, und sie antwortete, ja, das wäre schön.
Unterwegs musste ich noch an etwas anderes denken. Ein paar Monate zuvor war ich in einer U-Bahn der Piccadilly Line mehr als eine Stunde festgesessen. Nach einer Weile wurden wir per Lautsprecherdurchsage gebeten, die Verzögerung zu entschuldigen, und darüber informiert, dass sich im nächsten Bahnhof ein Fahrgast auf den Gleisen befinde. Die naheliegendste Antwort darauf wäre: Na schön, dann seht zu, dass er von dort verschwindet, damit wir alle endlich an unser Ziel kommen. Aber natürlich handelt es sich dabei um einen Euphemismus für einen Selbstmord. Jemand hat sich vor den Zug geworfen und befindet sich nun in der Tat auf den Gleisen, allerdings übel zugerichtet. Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, und einer der Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, war: Schuldet man jemandem etwas, wenn man sich umbringt? Wenn man sich vor eine U-Bahn wirft, dann sieht einen der Fahrer des Zuges unter Umständen nur ein paar Zentimeter vor seiner Nase vorbeisegeln und bekommt aus nächster Nähe all die schrecklichen Geräusche mit, die wahrscheinlich zu hören sind, wenn einen der Zug zermalmt. In den meisten Fällen geht der Fahrer danach in Frührente. Und was ist mit all den Pendlern, die sich eine halbe Stunde lang über die Verspätung ärgern? All die versäumten Zahnarzttermine, die kleinen Kinder, die ratlos vor der Schule warten, die verkochten Mittagessen – schaden sie dem Karma eines Menschen? Ich ließ einen Gedanken zu, den ich bis dahin erfolgreich verdrängt hatte. In meiner Wohnung. Troy hatte sich in meiner Wohnung umgebracht. Ich fragte mich, ob nicht schon allein der Gedanke obszön war, aber ich konnte nicht damit aufhören. Er hatte sich an einem Ort erhängt, an dem die Wahrscheinlichkeit bestand, dass ich ihn finden würde. Seine Leiche hatte dort gebaumelt, sich dort langsam eingependelt, wo ich schlief und aß und mein Leben lebte. Wie hatte er das nur tun können? Ich wäre so gern davon überzeugt gewesen, dass Troy das nicht übers Herz gebracht hätte. Ich liebte Troy und er mich auch – sogar dann, wenn er tief in seiner Depression steckte. Wäre er überhaupt in der Lage gewesen, mir so etwas anzutun? Etwas, das ich nie vergessen würde? Ich versuchte mir einzureden, dass ein Mensch, der sich umbringt, höchstens noch insofern an die Gefühle der anderen denken kann, als er sich sagt, dass sie ohne ihn besser dran sind. Oder war es sogar noch schlimmer? Ich zwang mich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Ort und die Art von Troys Selbstmord so etwas wie eine Nachricht an mich darstellten: So, Miranda, du hast dir eingebildet, mich zu verstehen. Du hast geglaubt, mir helfen zu können. Tja, nun hast du
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