Der falsche Freund
– er trat mit dem Fuß nach einem Stapel seiner Klamotten, sodass er umkippte und die Sachen auf dem Boden landeten –, »weil du irgendeinen Strick suchst. Richtig?«
»Ich war einfach durcheinander«, murmelte ich.
»Durcheinander?«, wiederholte Kerry. »Ist dir eigentlich klar, dass gestern unser kleiner Bruder beerdigt worden ist? Und heute tauchst du hier auf, machst dir die Mühe herzufahren, nur um in Brendans Koffer herumzuschnüffeln …«
»Ich glaube, ich gehe jetzt besser«, unterbrach ich sie.
Brendan trat einen Schritt vor, sodass er mir den Weg versperrte.
»Das glaube ich nicht, Mirrie.«
»Lass mich durch.«
»Solange wir dieser Sache nicht auf den Grund gegangen sind, gehst du nirgendwohin.«
»Wir sind alle überreizt.«
»Überreizt?«, schrie Kerry. Für eine so zierliche Person kann sie ziemlich laut werden. »Über reizt ?! Du hast sie doch nicht mehr alle!«
»Was ist denn hier los?«
Mein Vater stand in der Tür.
»Nichts«, antwortete ich lahm.
»Ich werde dir sagen, was los ist«, schimpfte Kerry und deutete mit dem Finger auf mich. »Sie! Sie hat Brendans Koffer durchwühlt.«
»Miranda?«, wandte sich mein Vater an mich.
»Sie sucht einen Strick«, fügte Brendan hinzu.
»Einen Strick?«
»Das hat sie zumindest gesagt.«
Brendan begann seine herumliegenden Kleidungsstücke einzusammeln und ordentlich zurück in den Koffer zu legen.
»Ich glaube, ich sollte jetzt gehen«, sagte ich.
»Ich glaube, du solltest uns das erklären«, erwiderte mein Vater. Aus seiner Stimme sprach Abscheu. Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht und sah sich nach einer Sitzgelegenheit um.
»Ich habe einfach versucht, Ordnung in meine Sachen zu bringen.«
»Wir waren gerade bei dem Strick«, rief mir Brendan ins Gedächtnis. »Hmm? Du hast heimlich meine Sachen durchwühlt, weil du irgendeinen Strick gesucht hast?«
Ich schwieg.
»Was für einen Strick?«, fragte meine Mutter, die gerade in den Raum trat.
Ich setzte mich auf das ungemachte Bett und schlug die Hände vors Gesicht, als hoffte ich wie ein kleines Kind, mich auf diese Weise unsichtbar machen zu können. Während Kerry meiner Mutter voller Entrüstung berichtete, wobei sie mich ertappt hatten, starrte ich durch einen Spalt zwischen meinen Fingern auf ein Stück Teppich unter der Kommode und versuchte dabei, die Worte meiner Schwester auszublenden.
»Ich erkenne dich überhaupt nicht wieder«, erklärte meine Mutter mit ausdrucksloser Stimme, nachdem Kerry mit ihrem Bericht fertig war.
»Bitte«, sagte ich. »Ich bin ganz durcheinander. Wir sind alle durcheinander.«
»Trotzdem wüsste ich gern«, mischte sich Brendan ein,
»welchen Strick du meinst; denn im Moment bedeutet das Wort
›Strick‹ für uns alle eigentlich nur eins. Hmm?«
Einen Moment lang herrschte im Raum angespanntes Schweigen, dann fuhr er fort: »Ist es das, was du damit meinst?
Den Rest des Stricks? Hmm?«
»Ich meine gar nichts.«
»Und trotzdem hast du dir die Mühe gemacht, extra herzukommen und danach zu suchen.«
»Halt den Mund!«, sagte ich und ließ die Hände sinken.
»Halt den Mund, halt den Mund! Ich komme mir hier vor wie vor Gericht, als würde alles, was ich sage, gegen mich verwendet werden. Starrt mich nicht so an!«
»Wieso glaubst du, dass er hier sein könnte? Hmm? Zwischen meinen Sachen? Gibt es etwas, das du uns sagen möchtest?«
»Nein«, flüsterte ich.
»Für mich besteht jetzt kein Zweifel mehr«, erklärte Kerry.
»Sie ist besessen von Brendan. Sie war es von Anfang an. Ich habe versucht, es zu ignorieren, mir einzureden, es spiele keine Rolle. Ich war ihr gegenüber tolerant und großzügig, oder etwa nicht? Ich dachte, sie würde darüber hinwegkommen. Dabei hätte ich es wissen müssen. Sie konnte ja von gar nichts anderem mehr reden als von ihrer Beziehung, konnte einfach nicht damit aufhören. Sie konnte auch nicht auf eine normale Art freundlich zu ihm sein, nein, sie war entweder wütend und voller Bitterkeit oder aber überfreundlich. Einmal hat sie sich im Bad sogar vor ihm ausgezogen, während ich nebenan für sie gekocht habe, weil ich besonders nett zu ihr sein wollte. Das muss man sich mal vorstellen!«
»Sag ›du‹!« Ich spürte, wie ich langsam hysterisch wurde.
»Sag nicht ›sie‹, wenn ich direkt vor dir sitze!«
Kerry sprach einfach weiter, ohne auf meine Worte zu achten.
Alles, was sich in ihr aufgestaut hatte, brach nun aus ihr heraus.
Ihre Stimme klang hoch und heiser.
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher