Der Falsche Krieg
die zum Iran, die 1639 im Vertrag von Qasr-e Shirin festgelegt wurde und von Transkaukasien bis zum
Persischen Golf verläuft. Sie blieb bis zur amerikanischen Militärintervention 2003 im Irak unangetastet. Sie hat den Erschütterungen nach dem Sturz des Osmanenreiches widerstanden und der Intervention der westlichen Mächte. Heute bildet sie die Grenze zwischen der Türkei und dem Irak auf der einen und dem Iran auf der anderen Seite. Umstritten ist nur der Schatt el-Arab, die gemeinsame Mündung von Euphrat und Tigris in den Persischen Golf: Verläuft die Grenze (rund hundert Kilometer) am iranischen Ufer oder in der Mitte des Mündungsstroms? Diese Frage bot einen Anlass zu Spannungen in den siebziger Jahren sowie einen Vorwand für den Krieg zwischen Iran und Irak 1980, und man einigte sich auf die Mitte. Aber die Grenze hat eine weitaus wichtigere Bedeutung: Politisch gesehen trennt sie die sunnitische arabische Welt von der schiitischen iranischen. Sie macht die Schia zu einem iranischen Phänomen und ignoriert die Besonderheit des arabischen Schiismus. Die arabischen schiitischen Bevölkerungsgruppen westlich dieser Grenze wurden unter sunnitische politische Verantwortung gestellt, erst unter osmanische, dann, nach 1918, unter arabische. Die Grenze war deshalb eines der wenigen stabilen strategischen Elemente in der Region. Doch damit ist es nun vorbei, denn selbst wenn der Irak als Nationalstaat erhalten bleibt, verläuft die wahre Grenze künftig innerhalb des Irak zwischen Schiiten und Sunniten, die sich mit Attentaten bekämpfen, und jedes Attentat zieht Bevölkerungsverschiebungen in demografisch homogene Gebiete nach sich. Gleiches gilt für Kurdistan.
Die Ausbreitung des iranischen Einflusses und die Quasi-Unabhängigkeit des irakischen Kurdistan im Osten, dazu im Westen die israelische Vorherrschaft über die Palästinenser, die am Rand eines Bürgerkrieges stehen, und der Aufstieg der schiitischen Hisbollah im Libanon haben zur Folge, dass der sunnitische arabische Raum immer kleiner wird.
Die Krise der politischen Fantasie - zwischen Nationalismus, Clanwesen und Supranationalismus
Ein großes Problem im Mittleren Osten ist die Frage der politischen Legitimität. Regional verankerte nationalistische Bewegungen sind im Allgemeinen im Dunstkreis von Staaten und nicht von Regimen entstanden, aber die politischen Ideologien auf dem Markt sind supranationalistisch, während die politische »Grammatik« (das Spiel der Allianzen und individuellen Loyalitäten) unterhalb der staatlichen Ebene liegt (all das, was man mit der Vokabel açabiyya oder »Solidaritätsgruppe« bezeichnet: Clans, Stämme, Konfessionen). 1 Anders als in der Türkei oder im Iran ist Lokalpatriotismus schlecht angesehen und verbirgt sich hinter supranationalen ideologischen Diskursen. Aber die supranationalen Ideologien (Panarabismus, Panislamismus, »Panschiismus«) überlappen sich und geraten manchmal auch miteinander in Konflikt. Deshalb klafft eine Lücke
zwischen einer utopischen politischen Fantasie, die virtuell ist und immer scheitert, und der konkreten politischen Praxis (zwischen Nationalismus und açabiyya) , die nicht gut ankommt . Die nationalistischen Bestrebungen bleiben zwar der entscheidende Schlüssel zu den Konflikten, werden aber ausgehöhlt von internen Spaltungen (ethnische und konfessionelle Rivalitäten im Irak, im Libanon und in Afghanistan; Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten; Umbrüche im Stammessystem), die sich im Rahmen von Ideologien und transnationalen Netzen artikulieren. Die Kluft öffnet allen Verschwörungstheorien und allen erdenklichen Frustrationen Tür und Tor.
Der unumgängliche Nationalismus
Jeder lokale Konflikt hat seine eigene Geschichte und seine eigene Logik: In der Rivalität zwischen Iran und Irak leben die Grenzkonflikte zwischen dem persischen Reich und dem Osmanenreich fort, Pakistan sucht immer noch nach Legitimität und nach einem Staatsgebiet, Palästinenser und Israelis vollziehen mühsam den Übergang von einem existenziellen Konflikt zu einem Territorialkonflikt. Dass Syrien dem Libanon die Unabhängigkeit verweigert, dass Pakistan Afghanistan und Kaschmir für seine Auseinandersetzung mit Indien instrumentalisiert, der Konflikt zwischen Äthiopien und Somalia: Diese Beispiele sind nur die frappierendsten
Belege für die Geschichtslast und Eigenlogik der Konflikte.
Gegenwärtig wie auch in der Vergangenheit bekämpfen die Hamas und der palästinensische Dschihad die
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