Der falsche Mann
alles, was Bryan Childress über Tom gesammelt hatte. Und ich hatte mit Tom selbst gesprochen, wieder mit wenig Erfolg. Es war kaum was aus ihm rauszukriegen, abgesehen vom täglichen Menüplan und der Klage über die Temperatur in seiner Zelle. Ich hatte seit neun Tagen nicht mehr gejoggt, unter anderem auch wegen des seit einiger Zeit tobenden Oktober-Eissturms. Jedenfalls spürte ich aufgrund des mangelnden Trainings ein Kribbeln in meinen Muskeln.
Die Frau spielte für einen Moment mit ihrem Smartphone. Sie war eigentlich gar kein Smartphone-Typ. Will heißen, keine vom aggressiven, businessmäßigen Schlag, zumindest wenn meine Menschenkenntnis mich nicht trog. Aber was wusste ich schon? Im Grunde konnte ich nicht viel mehr sagen, als dass sie offenbar irgendetwas zu verdauen hatte und den Alkohol gut wegsteckte. Rechnete man das, was sie bestellt hatte, mit dem zusammen, was die Sizilianer ihr spendiert hatten, kam sie auf sechs Gläser Wein, was bei mir vermutlich heftiger einschlagen würde als meine vier Stolis.
Das siebte Glas kam erneut von den beiden Sizilianern. Keine Ahnung, warum ihr der Barmann nicht hilfreich zur Seite sprang, sondern es ihr lediglich kommentarlos servierte. Doch jetzt reichte es der Lady. Sie schob das Glas beiseite und glitt vom Barhocker.
Sie beachtete die Jungs in der Ecke nicht weiter, und das war möglicherweise eine kluge Idee. So konnten sie das Gesicht wahren. Italiener sind so. Haben alle Kriege verloren, die sie je angezettelt haben, glauben aber immer noch, sie wären die härtesten Burschen überhaupt.
» Ho!«, rief einer von ihnen.
Ich zahlte und warf mir meinen Mantel über.
Die beiden Männer erhoben sich. Sie waren nicht groß, dafür aber ziemlich breit. Offensichtlich stemmten sie Gewichte, denn die Wölbungen ihrer Arm- und Schultermuskeln zeichneten sich selbst unter ihren Wintermänteln ab.
» Das ist nicht sehr höflich«, sagte Schläger Nummer eins. » Die ganzen Drinks und dann nicht mal ein Hallo?«
Die Frau, die in ihren langen weißen Mantel geschlüpft war und ihre Handtasche vom Tresen genommen hatte, drehte sich zu dem Mann um. » Hallo«, sagte sie. » Und Auf Wiedersehen.«
» Nein, nein, nein.« Die Männer beschleunigten ihre Schritte, als die Frau die Bar verließ.
Ich folgte ihrem Beispiel. Als ich die Tür aufstieß, standen die drei davor. Einer der beiden Männer, der kräftigere, hielt die Lady am Oberarm gepackt, während sie sich loszureißen versuchte.
» … Ihren Namen«, sagte er gerade. » Sie können mir zumindest Ihren Namen sagen. Ich hab Ihnen all diese Drinks spendiert.«
» Ich hab Sie nicht gebeten, mir Drinks zu spendieren«, protestierte sie. Ihre Stimme war doch nicht so zart. Sie wirkte wie jemand, der unter normalen Umständen gut auf sich selbst aufpassen konnte.
» Lassen Sie sie einfach los«, sagte ich zu dem zweiten Italiener.
» Ich lass sie los, wenn sie mir ihren Namen sagt und sich für die Drinks bedankt.«
Und dann schenkten sie mir plötzlich alle ihre Aufmerksamkeit. Was vielleicht daran lag, dass ich mich richtig laut räusperte. Die Frau blickte mir in die Augen. Und die beiden Schläger fuhren herum und musterten mich. Unser Atem hing wie gefroren in der Luft. An dieser Stelle hätte das Protokoll wohl erfordert, dass ich die Situation entschärfte.
» Eigentlich bin ich derjenige, der Grund hätte, sich hier aufzuregen«, sagte ich. » Ich saß den ganzen Abend lang da, und mir haben Sie keinen einzigen Drink spendiert.«
» Das hier geht Sie nichts an«, sagte der Mann, der den Arm der Lady umklammerte.
» Wenigstens eine Weinschorle«, sagte ich. » Irgendwas Billiges, bei dem wir hätten Bekanntschaft schließen können.«
Schläger Nummer zwei ging jetzt in Angriffshaltung. » Vielleicht wollen Sie ja mit meiner Faust Bekanntschaft schließen?«
» Witzig. Tolle Retourkutsche. Hört zu, Jungs«, entgegnete ich.
Wie gesagt, fragen Sie mich nicht, warum ich bestimmte Dinge tue. In dieser Situation hätte vermutlich meine bloße Gegenwart ausgereicht, und die beiden hätten die Frau losgelassen. Als versierter Diplomat, der ich war, hätte ich diese Männer ohne irgendwelche Handgreiflichkeiten zum Abzug bewegen können. Vermutlich mit viel Maulheldentum und unter Drohungen – um das Gesicht zu wahren –, aber ohne Handgreiflichkeiten. Davon abgesehen stand dieser Kerl viel zu dicht vor mir, als dass ich einen guten Schwinger hätte landen können.
Also verpasste ich ihm einen
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