Der falsche Mann
gegen die Tatsache abzuwägen, dass Mr. Hiltons Zeugenaussage für die Verteidigung unverzichtbar ist. Es ist das Einzige, was wir haben.«
Der Richter rückte seine Brille zurecht. » Und …«
» Mein Klient will nicht mit mir reden, Euer Ehren. Er leidet unter katatoner Schizophrenie, und ich bekomme nichts aus ihm heraus. Sergeant Hilton hat uns sehr wichtige Informationen über die Ereignisse im Irak geliefert, und diese sprechen eindeutig für die Verteidigung. Wenn die Jury diese Zeugenaussage nicht hört, dann erhält Tom Stoller keinen fairen Prozess. Ich weiß, Ihre Regeln sind wichtig, aber mir ist nicht bekannt, dass Sie diese je über das Recht eines Angeklagten auf einen fairen Prozess gestellt hätten.«
Bevor ich nach vorne getreten war, hatte ich etwa zwei Dutzend Zuschauer im Saal gezählt. Was nicht von Vorteil war, denn Richter Nash liebte es, Anwälte vor Publikum zur Schnecke zu machen. Ich hatte ziemlich dick aufgetragen – in Wahrheit hatte ich mehrfach erlebt, wie Richter Nash seine Regeln über den siebten Zusatzartikel der Verfassung gestellt hatte –, aber ich hoffte, er würde aus Scham darüber etwas Milde mit mir walten lassen.
» Der Staat erhebt Einspruch«, sagte Wendy Kotowski, als sie dazu befragt wurde. » Die Verteidigung hatte ausreichend Gelegenheit, diesen Zeugen zu benennen, selbst als er noch beim Militär war. Auch wenn sie noch nicht mit ihm gesprochen hatten, hätten sie uns über ihn informieren können. Haben Sie aber nicht. Sie haben einen Zeitpunkt nach der Offenlegung der Beweise abgewartet in der Absicht, sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen.«
» Das ist lächerlich«, protestierte ich, ohne die Einladung zum Sprechen abzuwarten, normalerweise ein Tabubruch bei diesem Richter. » Euer Ehren, ich hätte meine Zeugenliste mit allen, die je mit Tom Stoller beim Militär gedient haben, zumüllen können. Das wäre mein gutes Recht gewesen. Aber dann würde mir die Anklage jetzt vermutlich Missbrauch des Offenlegungsprozesses vorwerfen. Deshalb habe ich darauf verzichtet. Dafür verlangt jetzt die Anklage, ich hätte Sergeant Hilton zu einem Zeitpunkt benennen sollen, an dem ich noch keine Ahnung hatte, ob er in irgendeiner Weise für den Fall relevant ist.«
» Euer Ehren?«, sagte Wendy, brav um Erlaubnis bittend. Er gewährte sie ihr. » Euer Ehren, die von Ihnen aufgestellte Regel soll beide Seiten vor unzulässigen Tricksereien schützen, und das sollte sie auch in diesem Fall. Wir mussten beide mit dieser Regel leben. Und ich möchte bemerken, dass Mr. Kolarich diesen Antrag mit einem Gesuch um Verhandlungsaufschub gekoppelt hat in der Hoffnung, dass Sie wie beim salomonischen Urteil sozusagen das Kind entzweischneiden.«
Sie hatte recht. Genau darauf hatte ich es abgesehen.
Der Richter nickte. » Das ist mir auch schon aufgefallen, Mr. Kolarich. Sie haben einen Antrag gestellt, von dem Sie genau wissen, dass ich ihn ablehnen werde, und ihn mit einem weniger gewichtigen Antrag gekoppelt. Ein ›Entzweischneiden des Kindes‹, genau wie Ms. Kotowski gesagt hat. Glauben Sie wirklich, ich werde das Kind entzweischneiden, Mr. Kolarich? Halten Sie mich für König Salomon?«
Fragen Sie mich nicht, warum ich solche Dinge tue. Vielleicht aus einer Art Bauchgefühl heraus, aus einer instinktiven Einschätzung der Situation.
» Nein«, sagte ich, » aber ich habe gehört, Sie haben ihm alles beigebracht, was er wusste.«
Es gibt diese alte Redensart von der Stecknadel, die man hätte fallen hören können. An diesem 10. November um 9.22 Uhr hätte man in Gerichtssaal 1741 das Blut im Skrotum einer Ameise zirkulieren hören können.
Und dann warf der alte Mann den Kopf zurück und brach in Lachen aus. Meiner Erfahrung nach schätzen Leute, denen alle ständig nur in den Hintern kriechen, gelegentlich einen Witz auf ihre Kosten.
Die Zuschauer im Gerichtssaal folgten ihm wie eine Schar Lemminge. Alle hielten mich für witzig. Aber er hatte noch immer nicht über meinen Antrag entschieden.
Nach einer Weile setzte der Richter die Brille ab und beruhigte sich wieder. » Warum wollen Sie einen Verhandlungsaufschub, Mr. Kolarich?«
Ich zögerte einen Moment. Ich musste vorsichtig vorgehen. Mit diesem Antrag würde ich wohl kaum durchkommen. Die Chancen, dass Richter Nash den Prozess verschieben würde, waren minimal. Und bevor wir in drei Wochen vor die Jury traten, wollte ich mir von der Anklage nicht in die Karten schauen lassen. Ich wollte das
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