Der falsche Mann
Mal tauchte der Name Gin Rummy vor vier Jahren in einem abgehörten Gespräch auf«, sagte Joel. » Bei irgendwelchen niederen Chargen. Nicht bei Paulie Capparelli oder jemandem an der Spitze. Also hat das FBI den Namen lediglich notiert, ihm aber nicht viel Bedeutung beigemessen. Ich meine, diese Burschen haben ohnehin alle mindestens fünf Spitznamen.«
» Richtig«, sagte Tori, obwohl sie vermutlich keine Ahnung hatte.
» Aber dann wurde ein Gespräch im Gefängnis abgehört. Rico Capparelli, der Oberboss, der lebenslänglich sitzt, hat den Namen erwähnt. Ab da wurde das FBI aufmerksam. Soweit sie das überblicken, kann Gin Rummy in den letzten Jahren etwa zehn Auftragsmorde auf sein Konto verbuchen. Erinnert ihr euch an Anthony Moretti?«
Vage erinnerte ich mich. Der Moretti-Clan, der Verbindungen nach New Jersey hatte, war der Hauptrivale der Capparellis. Vor etwa einem Jahr war Anthony Moretti, der Capo, in seinem Bett erschossen worden. Außerdem wurden in seinem Apartment zwei tote Bodyguards entdeckt.
» Und das war Gin Rummy?«, fragte ich.
» Das wird allgemein angenommen.«
Tori blickte zu mir. » Dann hast du es mit einem ziemlich gefährlichen Burschen zu tun.«
» Ich hab’s gern spannend. Aber ich muss diesen Typ finden, bevor er mich findet.«
Wir überquerten die Mulligan an der Kreuzung und kamen an einem Schuhgeschäft vorbei, das Talia geliebt hatte.
» Ich liebe dieses Geschäft«, sagte Tori. Kein Wunder bei einer Fashionista wie ihr. Hey, kaum zu glauben, dass ich ein Wort wie » Fashionista« verwendete. Die Jungs zu Hause hätten sich für mich fremdgeschämt. Vielleicht wurde ich doch langsam weich.
Wir gingen auf der westlichen Straßenseite halb um den Block und blieben stehen. Lightner fischte Kopien der Fotos aus einem braunen Briefumschlag.
» Hier«, sagte er und deutete auf einen Baum, der in der Mitte des Gehwegs gepflanzt war. Keine Ahnung, was die Stadt sich dabei gedacht hatte. Zu dieser Jahreszeit waren die Zweige kahl und ließen den Baum mehr wie ein gigantisches Unkraut aussehen.
» Die Patronenhülse wurde in der Erde unterhalb des Baums gefunden«, erklärte Joel. Er trat einige Schritte nach links und stand nun direkt am Zaun eines Apartmentgebäudes. Hinter dem ein Meter fünfzig hohen Zaun befand sich die Wohnung des Zeugen Sheldon Pierson, der vor Gericht aussagen würde, dass er zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt draußen gewesen war und Weihnachtsdekorationen aufgehängt hatte, aber weder etwas gesehen noch etwas gehört hatte.
Auf der anderen Straßenseite standen Ein- und Mehrfamilienhäuser. Einige waren in den letzten Jahren renoviert worden, andere wirkten, als hätten sie gerade ein Flächenbombardement überstanden. Ein Viertel, dessen Generalsanierung durch die Wirtschaftskrise zum Erliegen gekommen war.
Joel streckte den rechten Arm aus und formte mit seiner Hand eine Pistole. » Er hat also von hier aus geschossen. Die Patronenhülse ist vermutlich direkt im Dreck gelandet.«
Mit den Tatortfotos als Führer lief ich hinüber zu der Stelle, wo Kathy Rubinkowski tot am Straßenrand zusammengebrochen war. Dort zog sich ein diagonaler Riss durch den Asphalt, der sich auf den Fotos wiederfand und den ich als Orientierungspunkt benutzte. Außerdem kannte ich die Stelle bereits einigermaßen gut, da es nicht mein erster Ausflug zu diesem Tatort war. Es ist absolut wichtig, den Tatort selbst aufzusuchen. Und fast genauso wichtig ist es, ihn ein zweites und ein drittes Mal zu sehen. Man muss diese Orte genau studieren. Man muss sich die Szene bildlich vorstellen. Andernfalls könnte einem etwas entgehen, das für den Fall entscheidend ist.
» Letztes Mal, als ich die Entfernung abschritt, waren es über drei Meter«, sagte ich, während ich die Distanz zwischen mir und Joel Lightner maß.
» Das war ein Präzisionsschuss«, sagte Joel nicht zum ersten Mal.
» Er hat ihr zwischen die Augen geschossen?«, fragte Tori. » Also hat sie ihn direkt angesehen.«
Ich blickte zu Tori. » Worauf willst du hinaus?«
Sie war wie üblich ansprechend zurechtgemacht in ihrem langen weißen Mantel und kniehohen schwarzen Stiefeln. » Wenn jemand eine Waffe auf mich richtet, würde ich wegrennen. Oder mich ducken.«
» Das sollte man eigentlich erwarten«, sagte Joel. » Aber in Wahrheit starren bedrohte Menschen auf die Quelle der Gefahr. Es gibt Studien darüber. Der Mensch will die Gefahr einschätzen können, also fokussiert er sich darauf. Wenn Kathy die
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