Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Gelee, und trinkt Tee dazu.
Ich falte den Zettel zusammen und stecke ihn sorgfältig in die Innentasche des Jacketts.
Morgen – nein, heute – musste ich wohl jemandem einen Besuch abstatten. Und zwar nicht in der Tiefe , sondern in der realen Welt.
»Was ist da geklaut worden? Was Wertvolles?«
»Keine Ahnung«, gesteht Maniac. »Ich würde vermuten, eine ergonomische Spezialmaus. Mit Motor und Autopilot. Oder ein Turbohelm. Vielleicht auch ein VR-Anzug mit einem Stachel im Hintern, der den Schmerz einer Spritze imitiert. New boundaries produziert allen möglichen Mist für Lamer, den ein normaler Mensch nie im Leben braucht.«
»Warum steigt dann ein erfahrener Hacker bei denen ein?«
»Weil man auch den größten Schwachsinn verkaufen kann, wenn Nachfrage danach besteht. Allerdings hatten die anständige Sicherheitssoftware.« Maniac grinst.
»Stammte die von dir?«
»Ja. Aber sag Dschingis nichts davon, das würde ihn fertigmachen. «
»Dieser Bastard ist in der realen Welt gestorben«, teile ich Maniac leise mit. »Er ist wirklich tot.«
Schurka hebt den Kopf und sieht mich aufmerksam an. »Was faselst du da, Leonid? Hast du das überprüft?«
»Es ist ein Gerücht.«
»Das hat New boundaries wahrscheinlich selbst in die Welt gesetzt! Um sich ungebetene Gäste vom Hals zu halten. So was hat es schon oft genug gegeben!«
»Früher hat man auch Viren, die die Hardware zerstören, für ein Fantasieprodukt gehalten.«
»Jetzt hör mir mal zu, Ljonka«, verlangt Maniac. »Du tust ja gerade so, als ob du das erste Mal in der Tiefe bist! Ich habe eine Freundin, die in der Informationsabteilung arbeitet, da erfahre ich jede Neuigkeit als Erster. Glaub mir, wenn eine Waffe aufgetaucht wäre, mit der du jemanden aus der Tiefe heraus in der realen Welt töten kannst, dann würde ich es noch vor dem Präsidenten von Virtual Guns wissen!«
Ich muss ihm glauben. Und ich spüre, wie sich in mir ein Knoten löst, der mir den ganzen Abend die Brust abgeschnürt hat.
»Was ist das für eine Freundin?«
»Nichts Besonderes.« Maniac blickt mich finster an. »Sie sieht ganz gut aus, ist aber strohdumm. Wenn ich sie vögle, muss ich heulen.«
Ich fange an zu lachen. Schurka behält seine finstere Miene noch kurz bei, runzelt dann die Stirn, als versuche er sich zu erinnern, was er gesagt hat, und grinst schließlich auch.
»Jedenfalls existiert eine solche Waffe nicht«, versichert er. »Du kannst vielleicht einen Rechner in einen Haufen Schrott verwandeln, aber du kannst aus der Tiefe heraus keinen Menschen töten. Wenn an diesem Unsinn was dran wäre, wäre ich der Erste, der die Tiefe verlassen würde.«
»Warum das denn? Du könntest doch auch von einem Auto angefahren werden, wenn du über eine reale Straße gehst.«
»Ljonka! Stell dir doch mal vor, was in der Tiefe los wäre, wenn du da jemanden richtig ermorden könntest! Wenn jeder Rotzlümmel, der an einen Rechner kommt, diejenigen abknallen kann, auf die er sauer ist. Und zwar richtig!«
»Das stelle ich mir gerade vor.« Das Lachen bleibt mir im Hals stecken.
»Für die virtuelle Welt gibt es noch immer keine brauchbaren Gesetze«, überlegt Maniac laut. »Du könntest noch nicht mal irgendjemand wegen Mordes anklagen.«
»Komm mir jetzt doch nicht mit juristischen Spitzfindigkeiten! «, ereifere ich mich. »Stell dir lieber mal einen betrunkenen Kerl in der Tiefe vor. Oder einen Junkie. Einen Teenager mit seiner ganzen überschüssigen Energie. Einen Psychopathen. Jemanden mit Depressionen. Wenn kein richtiges Blut zu sehen ist. Wenn alles wie ein Spiel wirkt … Scheiße!«
»Eben. Wenn so eine Waffe auftaucht, bedeutet sie das Ende der Tiefe !« Maniac verzieht das Gesicht, als lausche er auf etwas. »Ich muss los, Ljonka. Meine Mittagspause ist um.«
Ich schaffe es gerade noch, ihm die Hand zu geben, da wirft Maniac auch schon Geld auf den Tisch und stürmt aus dem Restaurant. Ohne Frage, Amerika hat ihm beigebracht, was Arbeitsdisziplin heißt. Die Staaten sind nicht Petersburg, wo wir uns manchmal in der Mittagspause auf ein Bierchen getroffen haben.
Ich sollte wohl auch los.
Damit ich wenigstens noch etwas Schlaf abbekomme.
Als ich beim Kellner die Rechnung bezahle, lege ich kurz die Hände aneinander und verschränke die Finger. Das ist ein völlig harmloses und simples Zeichen von uns Divern. Selbst Frischlinge erkennen es. Dieser Kellner geht verdammt geschickt mit seinen Tellern um. Ob er vielleicht über dieselben Fähigkeiten
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