Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
verfügt wie ich?
Doch er würdigt meinen Gruß keines Blickes.
Etwas anderes zu erwarten wäre wohl auch dumm gewesen.
101
Gegen zehn Uhr morgens wachte ich auf.
Ein feiner, monotoner Regen ging. Bei diesem Wetter reist es sich gut. Du stehst rauchend im Gang deines Zugs und schaust auf das beschlagene Fenster. Im Abteil sitzen Freunde von dir. Oder nein, besser keine Freunde, sondern Bekannte, mit denen du etwas trinkst, denen du aber nicht dein Herz ausschütten musst. Auf dem Tischchen wartet bereits die erste Flasche Wodka, jemand packt Sandwiches, Gurken und dergleichen aus.
Bei solchem Wetter muss man von seiner Liebsten Abschied nehmen. Oder nein, nicht von seiner Liebsten, sondern von allem, was man liebt. Von der geliebten Stadt, der geliebten Arbeit.
Aber von seiner Liebsten Abschied zu nehmen, das ist die beste Variante.
Und zwar für immer Abschied zu nehmen.
»Ich habe Deep-Fieber«, sagte ich. »Kapiert?«
Doch da war niemand, der mich hätte hören können. Vika hatte keine Deep-Psychose. Sie war zur Arbeit gegangen, einem ganz normalen Job in der Welt der Menschen. Ich war zu Hause geblieben, um durch die Wohnung zu tigern, ein bisschen aufzuräumen – und um dann einen grauen Plastikhelm aufzusetzen.
Wobei: Heute hatte ich ja andere Pläne.
Ich wollte diesen Typen, diesen Dschingis, aufsuchen. Damit er mir etwas gab, das ich in der Tiefe brauchte.
Mit diesem Gedanken sprang ich aus dem Bett.
Nach den nur knapp vier Stunden Schlaf dröhnte mir der Kopf. Ich ging ins Bad, zog das T-Shirt und die Unterhose aus, stellte mich unter die Dusche und drehte den Hahn auf.
Das Wasser war kalt. Eiskalt. Fluchend stellte ich es wieder ab. Es war also kein Zufall gewesen, dass gestern vor dem Haus ein Bagger gelärmt hatte und die Rohre freigelegt worden waren.
Was gibt es Schöneres im Leben, als sich verschlafen unter eine heiße Dusche zu begeben, vom Kopf bis zu den Füßen warm zu werden und sich danach mit einem kratzenden Handtuch abzurubbeln?
Aber nicht mal das klappte.
Im Sommer wäre ich das Risiko einer Eisdusche durchaus eingegangen, aber nicht jetzt, bei den kalten Temperaturen.
Scheiße! Die hygienischen Maßnahmen könnte ich ja ruhigen Gewissens auf den Abend verschieben. Aber wenn ich nicht richtig wach wurde, würde ich quasi den ganzen Tag schlafwandeln.
Wobei …
In meinem Hotelzimmer in Deeptown gab es ein Bad.
Ich würde in der Tiefe duschen, eine hervorragende Idee.
Nur dass ich dann heute Abend, wenn Vika von der Arbeit kam, immer noch mit dem Helm dasäße.
»Kommt gar nicht in die Tüte!«, rief ich mich selbst zur Ordnung, kehrte ins Bad zurück und bespritzte mich jaulend mit Eiswasser.
Wie war das? Ich war eben noch verschlafen gewesen? Während ich mich zitternd abtrocknete, suchte ich nach Resten der Müdigkeit – fand aber keine.
Maniacs Notiz lag im Drucker. Vika war in diesen Dingen großartig, sie wusste genau, wenn sie etwas nichts anging. Ich riss das Blatt ab und betrachtete es.
Keine Telefonnummer, nur die Adresse. Dschingis lebte im Zentrum, in der Nähe der Metrostation Krasnyje Worota. Bestens. Da konnte ich die Nord-Süd-Linie nehmen, die Fahrt würde nicht lange dauern.
Ich stopfte das Blatt schon mal in meine Jackentasche und ging mich anziehen.
Das hätte Maniac mir ruhig sagen können.
Ich stand vor einem Tor mit Metallgitter, hinter dem ein Häuschen lag, in dem zwei Kerle vom Security-Service saßen. Beide trugen eine paramilitärische Uniform und wahrten eine steinerne Miene. Hinter dem Häuschen erstreckte sich ein großer, gepflegter Garten, das Haus lag weit hinten. Es war nicht sehr hoch, dreizehn Stockwerke nur, dafür von ziemlich bizarrer Form, als stünde es nicht in Moskau, sondern in Deeptown.
»Warum habe ich bloß heute meinen Smoking nicht an?«, murmelte ich.
Dschingis war also einer von diesen neureichen Russen.
Und ich hatte ihn für einen Hacker gehalten.
Kaum streckte ich die Hand zum Tor aus, da öffnete es sich sanft und völlig lautlos. Die steinernen Gesichter der Security-Fuzzis verzogen sich zu einem Grinsen.
Sollen sie!
Ich trat vor das Häuschen. Die Typen beäugten mich neugierig, sprachen mich aber nicht an. Ich sah weder wie ein Mieter noch wie ein Freund des Hauses aus – warum sollten sie da also höflich sein?
»Ich muss in die Wohnung Nr. 31«, teilte ich ihnen mit, wobei ich aus den Augenwinkeln auf meinen Zettel schielte.
»Werden Sie erwartet?« Immerhin legten sie den Anschein von
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