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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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hier!«
    Ich starrte auf die DVD, die auf dem Tisch lag.
    »Nein, ich mach mich doch besser auf. Noch fährt die Metro.«
    »Immer mit der Ruhe, die Metro fährt noch drei Stunden«, sagte Dschingis nach einem Blick auf die Uhr. »Abgesehen davon bringe ich dich nach Hause.«
    »Du bist betrunken!«, rief Pat.
    »Gut, ich bleibe noch ein Weilchen. Aber dann nehme ich die Metro«, kapitulierte ich.
    Dschingis schob mir wortlos mein Glas hin.

111
    Um mich herum nichts als Nebel.
    Graues Dunkel.
    Auch diesmal gibt es weder Richtungen noch Entfernungen. Ich irre durch milchige Schichten. Etwas riecht … wie frische Wäsche, deren Geruch der Frost heranträgt, oder wie ein heraufziehendes Gewitter.
    Ich sehe mich um: nirgends ein Licht oder ein Widerschein.
    Aber da war doch mal ein Licht … daran erinnere ich mich ganz genau.
    Irgendwo am anderen Ende dieser Haarbrücke, da, wo die Felswände aus Feuer und Eis aufeinandertreffen, da war ein Licht …
    Orientierungslos mache ich die ersten Schritte. Ich bin mir sicher, dass ich in jede beliebige Richtung gehen, hetzen kann – früher oder später wird in jedem Fall das Licht auflodern und dem Nebel die funkelnden Felswände aus purpurrotem Feuer und blauem Eis entreißen.
    Und tatsächlich leuchtet das Licht auf. Ein schwaches magisches Licht, gespenstisch, trüb und diffus.
    Meide die wandernden Lichter, wenn du übers Moor gehst!
    Ich renne.
    Der Eindruck, ganz in meiner Nähe bewege sich jemand, verstärkt sich. Vielleicht versteckt er sich hinter mir, vielleicht begleitet
er mich oder beschützt mich. Er tritt sehr weich auf, hat keine Eile, bleibt aber auch nie zurück.
    Von mir aus.
    Die linke Wand besteht aus blauem Eis, die rechte aus purpurrotem Feuer. Sie ragen bis in den Himmel auf, im grauen Nebel lässt sich weder ihr Anfang noch ihr Ende ausmachen, sie wachsen aus bodenloser Tiefe auf.
    Dann setze ich meinen Fuß auf die straff gespannte Saite. Kälte durchschießt meine linke Hand, Feuer versengt die rechte. Es ist wie ein Spiel, wenn du abstürzt, kannst du von vorn anfangen. Es ist wie ein Spiel, wie ein Spiel …
    Auch wenn es verdammt wehtut.
    Und du jedes Mal von vorn anfangen musst.
    »Du kommst nicht durch, Ljonka.«
    Das ist neu.
    Zum ersten Mal vernehme ich in diesem Königreich aus totem Nebel und sengenden Felsen eine Stimme.
    Die ich kenne.
    Ich will mich umdrehen, aber der Schatten in meinem Rücken entschwindet, gleitet so schnell zur Seite, dass ich ihm nicht ins Gesicht blicken kann.
    »Aber ich muss da doch rüber, oder?«, frage ich.
    »Stimmt. Aber das heißt nicht, dass du es auch schaffst.«
    Das war’s. Die Stimme verfliegt, löst sich auf …
    Nur das Haar unter meinen Füßen bleibt. Nur die Wände zu beiden Seiten.
    Und ein schwaches, zitterndes, ersterbendes Licht vor mir.
    Ich gehe über das Haar.
    Heute ist es schon leichter. Warum auch immer. Vielleicht weil derjenige, der vor mir schleicht, und ich endlich im Gleichschritt gehen. Vielleicht weil er auf der anderen Seite der Brücke zurückgeblieben ist.
    Vielleicht aber auch, weil ich gelernt habe, den Takt zu halten.
    Die linke Felswand besteht aus blauem Eis. An ihren spitzen Nadeln ist eine Figur aufgespießt. Da hatte jemand dieser Seite den Vorzug gegeben, aus Furcht vor der rechten Wand, deren Flamme dich völlig verbrennt.
    Vielleicht ist das mein eigener Körper …
    Ich kann den Gedanken nicht zu Ende denken. Ich muss mich dieser Figur stellen. Sie zittert, als ich an ihr vorübergehe. Tote Luft, die Wärme meines eigenen Körpers oder was sonst auch immer reißt mit einem Mal diese Figur von der Wand und schleudert sie auf die Haarbrücke. Einen Moment lang fürchte ich, die Brücke zerschneide die Figur in zwei Hälften, doch dann ist alles weit profaner: Der von Raureif überzogene Körper stürzt in die Tiefe, in den bodenlosen Abgrund. Die Saite unter meinen Füßen vibriert, schwankt und schwingt immer weiter nach links und nach rechts, als habe dieser Absturz einen Mechanismus in Gang gesetzt.
    Die linke Wand besteht aus blauem Eis, die rechte aus purpurrotem Feuer, links Eis, rechts Feuer, links, rechts …
    Ich stoße mich von dem zitternden Haar ab, werfe mich der rechten Wand entgegen …
     
    »Warum schreist du so?«
    Ich öffnete die Augen.
    »Hast du schlecht geträumt?«
    Im Auto war es warm. Nicht sengend heiß, sondern warm. Ob ich deshalb im Traum die rechte Wand gewählt hatte?
    Der Fahrer hatte sich nicht zu mir umgedreht. Vor mir ragte sein

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