Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
»Und zwar in jeder Hinsicht. Denn erstens bräuchten wir eine echte Waffe, um uns zu verteidigen, falls uns eine Gefahr droht.«
»Aber mit der würden wir ja wohl nicht aufeinander losgehen? «, hält Maniac dagegen.
»Du, ich, Bastard … wir nicht. Aber …«
»Und was ist mit mir?«, empört sich Pat. »Na? Habe ich dich je auch nur gepiekt?«
»Du kleines Miststück hast mich getreten, noch dazu als ich geschlafen habe!«, ruft ihm Bastard in Erinnerung.
»Eben! Getreten! Aber nicht gepiekt!«
»Und du würdest auch nie auf Ljonka schießen?«, will Dschingis wissen.
Der Junge sieht mich an. »Nein«, bringt er mürrisch heraus. »Er ist schon okay.«
»Es spricht aber noch etwas anderes gegen diese Variante«, nimmt Dschingis seine Argumentation wieder auf. »Jeder von uns wird in dieses sichere Mini-Deeptown seine Freunde bringen wollen, oder etwa nicht? Und jeder wäre bereit, für sie zu bürgen, und würde ihnen vertrauen. Aber ein Freund meines
Freundes muss nicht unbedingt auch mein Freund sein. Das ist leider nun mal so.«
»Dann schränken wir die Zahl halt ein«, schlägt Maniac einen Ausweg vor. Sie spielen diese Möglichkeit jetzt bis zum Ende durch.
»Und dann? Wenn wir zu wenig sind, werden wir uns bald langweilen. Dann brechen wir alle möglichen Streitigkeiten und Intrigen vom Zaun. Bis schließlich einer von uns diese kleine, sichere Welt mit einer echten Waffe betritt. Zunächst, um sich zu verteidigen. Doch früher oder später würden wir anfangen zu schießen. Auf die Freunde unserer Freunde. Ungeachtet der Konsequenzen, die das hat. Nein, Schurka, dein Vorschlag ist eine Utopie.«
»Und wenn schon«, knurrt Maniac und zündet sich eine Zigarette an. »Es wäre immerhin ein Ausweg. Die Alternative wäre, die Tiefe ganz aufzugeben.«
Ich stelle mich zwischen die beiden ans Fenster und sehe hinunter, auf die Straße.
Sie wird allmählich weiß.
»Der Schnee bleibt schon liegen.«
Eine Minute blicken wir alle nach unten, selbst Pat ist aufgestanden und zu uns gekommen.
»In den Staaten haben wir gerade eine Affenhitze«, berichtet Maniac. »Wie gern wäre ich jetzt hier in Moskau … mit richtigem Schnee.«
»Dann komm doch her«, schlägt Dschingis vor.
»Ich kann mir kein Flugticket leisten«, gesteht Maniac. »Vielleicht im nächsten Jahr.«
»Der Sommer ist auch schön«, flüstert Pat.
»Aber der ist jetzt vorbei«, sage ich.
»Schon seit Langem«, brummt Bastard. »Du wolltest das nur nicht wahrhaben. Und jetzt ist der Winter da.«
Da stehen wir nun, Hacker und Diver, vor einem gezeichneten Fenster in einem gezeichneten Haus.
»Das bedeutet überhaupt nicht das Ende der Tiefe «, hauche ich. Mir ist endlich aufgegangen, dass die Wahrheit wesentlich schrecklicher ist, als ich anfangs gedacht habe. »Denkt doch mal nach! Was passiert denn, wenn alle von der neuen Waffe erfahren? «
»Dann gibt es eine Massenflucht«, sagt Dschingis.
»Blödsinn!« Bastard schüttelt den Kopf. »Die Leute werden nur glotzen, wenn am Anfang viele Menschen umgenietet werden. Ja, Ljonka, du hast recht!«
»Einige werden die Tiefe verlassen«, sage ich. »Aber die meisten werden wohl bleiben wollen und lediglich ein paar Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, etwa in der Art wie die, die wir gerade eben diskutiert haben. Deeptown wird in viele kleine Bezirke zerfallen. In jedem von ihnen wird es eine eigene Polizei geben, auf lange Sicht auch eine Armee. Die Menschen werden sich nach bestimmten Merkmalen zu Gruppen zusammenschließen, nach Nationalität, Beruf, Interessen, sexueller Orientierung …«
»Und dann bricht ein tausendjähriger Krieg zwischen Sadisten und Masochisten aus!«, bemerkt Bastard. Er kann sich offenbar über alles amüsieren. »Das französische Fürstentum La Profondeur setzt der Freien Union der Systemadministratoren ein Ultimatum!«
»Die Fans von Strategiespielen … gegen …« Pat hüpft aufgeregt auf der Suche nach einem würdigen Gegner herum.
»Gegen die Tetris-Junkies!« Bastard verstummt mit einem Mal und sieht mich düster an. »Ja, du hast recht. Es wird alles genauso werden wie im richtigen Leben …«
»Die Tiefe hat der Welt Freiheit gebracht«, erwidere ich. »Eine neue Freiheit, wie es sie bis dahin nie gegeben hat und auch nicht geben konnte. Daraufhin hat man versucht, diese Freiheit
zu ersticken, zu vergiften und zu reglementieren. Aber das hat alles nichts gebracht. Dann bekamen die Menschen Angst vor der Tiefe . Sie haben die Tiefe verflucht
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