Der Fangschuss
Vorstellung eines durch die Frau vermittelten Glücks zu versöhnen. Ich denke immer noch mit einer Art Mitleid an den Ausdruck hündischer Ergebenheit, mit dem er die kleinsten Willfahrigkeiten einer höhnischen, unglücklichen und deshalb zugänglichen Sophie quittierte. Dieser gutmütige Junge hatte in seinem kurzen Dasein jedes erdenkliche Pech gehabt. Er wurde von der Schule gejagt wegen eines Diebstahls, den er nicht begangen hatte; seine Eltern wurden 1917 von Bolschewiken ermordet; eine schwere Blinddarmoperation kostete ihm beinahe das Leben, und wenige Wochen später wurde er gefangengenommen. Sein verstümmelter Leichnam zeigte eine tiefe schwarze Brandwunde. Sie rührte von dem langen Docht eines Wachsstockes her, den man dem Opfer um den Hals gewunden und angezündet hatte. Ich brachte Sophie die Nachricht so schonend wie nur möglich bei und sah nicht ohne Genugtuung, daß sie das entsetzliche Geschehen zu anderen, ähnlich schrecklichen Erlebnissen hinzutat, ohne darüber Schmerz zu empfinden.
Sie suchte noch weitere Abenteuer, die alle dem gleichen Zwang entsprachen, jenen unerträglichen Liebesmonolog in ihrem Innern zum Schweigen zu bringen. Alle nahmen nach ein paar hilflosen Umarmungen ein beschämendes Ende. Unter jenen flüchtigen Erscheinungen war ein gewisser russischer Offizier mir am widerwärtigsten. Er war aus einem bolschewistischen Gefängnis entkommen und hatte sich eine Woche bei uns aufgehalten, bevor er zu einer mysteriösen und aussichtslosen Mission zu einem der russischen Großfürsten nach Schweden aufbrach. Ich hatte schon am ersten Abend die unwahrscheinlichen und lüsternen, bis ins einzelne beschriebenen Weiberaffären dieses Trunkenboldes mitangehört und konnte mir nur zu gut vorstellen, was sich auf dem Ledersofa im Gärtnerhaus zwischen Sophie und ihm abspielte. Ich hätte fortan die Gegenwart des jungen Mädchens nicht ertragen können, wenn ich auch nur ein einziges Mal auf ihrem Gesicht so etwas wie einen Ausdruck des Glücks gesehen hätte. Sie gestand mir alles. Ihre Hände berührten mich immer noch mit kleinen verzagten Bewegungen, die eher wie das Tasten eines Blinden als wie Zärtlichkeiten auf mich wirkten, und jeden Morgen sah ich eine Frau vor mir, die verzweifelt war, weil der Mann, den sie liebte, nicht derjenige war, mit dem sie schlief.
Eines Abends, etwa einen Monat nach meiner Rückkehr aus Riga, arbeitete ich im Turm mit Konrad, der sich alle Mühe gab, eine lange deutsche Pfeife zu rauchen. Ich war gerade aus dem Dorf zurückgekehrt, wo unsere Leute versuchten, die verschlammten Gräben, so gut es ging, mit Knüppelholz abzustützen. Es war eine jener ruhigen Nächte, wo die Feindseligkeiten auf beiden Seiten wegen undurchdringlichen Nebels eingestellt wurden. Meine nasse Jacke dampfte über dem Ofen, den Konrad mit jammervoll feuchtem Kleinholz heizte, indem er jedes einzelne Scheit mit einem Seufzer ins Feuer legte, als gelte es, eine alte Parktanne zu opfern; da trat der Sergeant Chopin ins Zimmer, um mir eine Meldung zu übergeben. Noch in der Tür stehend, gab er mir über Konrads gesenkten Kopf hinweg mit seinem roten und beunruhigten Gesicht ein Zeichen, worauf ich mit ihm auf den Flur hinausging. Dieser Chopin, ein Bankangestellter aus Warschau, war der Sohn eines polnischen Intendanten, der in den Diensten des Grafen Reval stand. Er hatte eine Frau, zwei Kinder, gesunden Menschenverstand und eine zärtliche Anhänglichkeit fur Konrad und seine Schwester, die ihn beide wie ihren Milchbruder behandelten. Gleich zu Beginn der Revolution war er nach Kratovice gekommen, wo er seitdem als ein Ehrenmann seinen Dienst tat. Er flüsterte mir zu, er habe, als er durch die Kellerräume gegangen sei, dort Sophie gefunden, die völlig betrunken an dem großen Anrichtetisch der um diese Zeit immer leeren Küche sitze; es sei ihm trotz seiner dringlichen und sicher ungeschickten Bitte nicht gelungen, das junge Mädchen dazu zu bringen, in ihr Zimmer hinaufzugehen. »Wie wird sie sich morgen schämen«, sagte er zu mir, »wenn jemand sie in diesem Zustand sehen würde …«
Der gute Kerl glaubte noch an Sophies Schamgefühl; und merkwürdigerweise irrte er sich nicht. Ich ging die Wendeltreppe hinunter und versuchte das Knarren meiner schlecht geschmierten Stiefel nach Möglichkeit zu unterdrücken. In jener friedlichen Nacht war in Kratovice niemand wach. Aus dem großen Saal im ersten Stock, wo dreißig völlig erschöpfte Leute wie ein Mann
Weitere Kostenlose Bücher