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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
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schließen, riefen in mir die Kindheitserinnerung an hastig verbarrikadierte Hotelfenster wach, wenn in der Sommerfrische im Gebirge ein abendliches Gewitter aufzog. Sophie sah mir mit einem traurigen Schmollen zu. Endlich sagte sie:
    »Würde es Sie stören, Erich, wenn ich stürbe?«
      Ich haßte diese zärtlich heisere Stimme, die sie sich angewöhnt hatte, seit sie sich mit Männern abgab. Das Krachen einer Bombe ersparte mir eine Antwort. Sie war im Osten in der Nähe des Teiches niedergegangen. Am nächsten Tag erfuhr ich, daß sie auf die Uferböschung gefallen war. Abgerissenes Röhricht schwamm einige Tage zwischen den weißen Bäuchen der toten Fische und den Trümmern eines Kanus auf dem Teich herum.
      »Ja«, sagte sie langsam, im Ton eines Menschen, der sich über etwas klarzuwerden versucht, »ich habe Angst; was mich wundert, denn eigentlich sollte es mir doch nichts ausmachen, nicht wahr?«
      »Ganz wie Sie wollen, Sophie«, antwortete ich gereizt; »aber die unglückliche alte Frau wohnt in einem Zimmer, das gleich neben Ihrem Zimmer liegt. Und Konrad …«
      »O Konrad«, sagte sie mit einem unendlich müden Tonfall und stand auf, indem sie sich mit beiden Händen auf den Tisch stütze wie eine Kranke, die Angst hat, ihren Sessel zu verlassen. Ihre Stimme verriet eine solche Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal ihres Bruders, daß ich mich unwillkürlich fragte, ob sie begonnen habe, ihn zu hassen. Sie hatte aber lediglich jenen Grad von Dumpfheit erreicht, da einen nichts mehr interessiert. Sie hatte zur gleichen Zeit aufgehört, sich um ihre Angehörigen zu sorgen, wie Lenin zu bewundern.
    »Oft denke ich«, sagte sie und trat zu mir, »daß es nicht recht ist, keine Angst zu haben. Wäre ich aber glücklich«, fuhr sie fort und fand ihre frühere rauhe und doch sanfte Stimme wieder, die mich jedesmal wie die dunklen Töne eines Cello rührte, »– wäre ich glücklich, so würde es mir, glaube ich, nichts ausmachen, zu sterben. Fünf glückliche Minuten wären für mich wie ein Zeichen von Gott. Sind Sie denn glücklich, Erich?«
      »Ja, ich bin glücklich«, sagte ich gegen meinen Willen, denn ich merkte plötzlich, wie töricht ich log.
      »Ansehen tut man es Ihnen aber nicht«, erwiderte sie in dem neckenden Ton eines kleinen Schulmädchens. »Und weil Sie glücklich sind, macht es Ihnen nichts aus, zu sterben?«
    Mit ihrem gestopften schwarzen Schal über dem Flanellhemd sah sie aus wie ein kleines verschlafenes Kindermädchen, das man um Mitternacht aus dem Bett geklingelt hat. Ich werde nie wissen, weshalb ich ebenso lächerlicher- wie unverantwortlicherweise das Fenster wieder öffnete. Die zu Konrads Kummer gefällten Bäume hatten eine breite Lichtung geschaffen, so daß man bis zum Fluß hinuntersehen konnte, wo, wie in jeder Nacht, vereinzelte sinnlose Gewehrschüsse einander antworteten. Das feindliche Flugzeug kreiste noch immer an dem grünlichen Himmel wie eine riesige Wespe in einem riesigen Zimmer und erfüllte die Stille mit seinem gräßlichen Motorengebrumm. Ich trat wie ein Liebender in einer Mondnacht mit Sophie auf den Balkon und beobachtete mit ihr das Schwanken des Lichtkegels, den die Lampe auf den Schnee malte. Es mußte ziemlich windstill sein, denn der Lichtschein bewegte sich kaum. Ich hatte den Arm um Sophies Hüfte gelegt und hörte ihr Herz klopfen – das arme, überanstrengte Herz, das plötzlich langsamer und dann wieder schneller und mutiger schlug. Dabei hatte ich, soweit ich mich erinnern kann, nur den einen Gedanken: daß ich, falls wir in dieser Nacht sterben sollten, immerhin für dieses Schicksal meinen Platz an ihrer Seite gewählt hatte. Plötzlich ertönte dicht neben uns ein gewaltiges Krachen. Sophie hielt sich die Ohren zu, als sei dieser Lärm noch schlimmer als der Tod. Die Bombe war nur einen Steinwurf weit von uns auf das Wellblechdach des Stalles gefallen. Zwei unserer Pferde mußten in dieser Nacht für unseren Leichtsinn mit dem Tode zahlen. In der nun folgenden unheimlichen Stille hörten wir noch das stückweise Zusammenstürzen einer Ziegelmauer und das grauenvolle Wiehern eines sterbenden Pferdes. Das Fenster hinter uns war in Scherben zersprungen, die unter unseren Schritten krachten, als wir ins Zimmer zurückgingen. Ich löschte die Lampe so behutsam aus, wie man sie sonst nach den Freuden der Liebe wieder anzündet.
      Sophie folgte mir auf den Korridor, wo vor einem von Tante Praskovias Heiligenbildern ein

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