Der Fangschuss
erinnere mich nur noch an unseren Ärger über von Wirtz' Unentschiedenheit und an den grauenvollen Champagner, den wir in einem russischen Nachtlokal tranken in Gesellschaft einer echten Moskauer Jüdin und zweier Ungarinnen, die sich für Französinnen ausgaben und deren Pariser Anstrich mir den Magen umdrehte. Ich hatte seit Monaten nichts von der letzten Mode gesehen und fand die tief in die Stirn gezogenen Hüte der Frauen äußerst lächerlich.
Gegen vier Uhr morgens stellte ich fest, daß ich mich mit einer der beiden Ungarinnen in einem Zimmer des einzigen halbwegs erträglichen Rigaer Hotels befand und noch gerade genügend Geistesklarheit besaß, um mir zu sagen, daß ich eigentlich lieber die Jüdin hätte wählen sollen. Nehmen wir an, daß mein »konformistisches« Verhalten sich zu achtundneunzig Prozent durch den Wunsch erklärte, unter meinen Kameraden nicht aufzufallen, und daß die restlichen zwei Prozent Auflehnung gegen mich selber gerichtet waren, so scheint es mir, daß man sich nicht immer nur zur Tugend zwingen muß. Die Absichten eines Mannes sind ein so unentwirrbares Durcheinander, daß ich, zumal dies alles so weit zurückliegt, nicht mehr entscheiden kann, ob ich mich damals auf Umwegen Sophie nähern oder ob ich sie erniedrigen wollte, indem ich das, wie ich wußte, lauterste Verlangen der Welt auf die gleiche Stufe stellte mit jener halben Stunde, die ich auf einem zerwühlten Bett in den Armen der ersten besten Frau verbrachte. Ein Teil meines Widerwillens mußte sich notwendigerweise an Sophie auslassen; und vielleicht hatte ich es allmählich nötig, in meiner Geringschätzung bestärkt zu werden. Ich verhehle mir nicht, daß eine ziemlich schäbige Angst, an dem Mädchen hängenzubleiben, mich so vorsichtig machte. Ich habe eine entscheidende Bindung von jeher verabscheut, worauf es doch mit einer verliebten Frau immer hinausläuft. Jene Sängerin aus einem kleinen Budapester Café wollte wenigstens keine Rolle in meinem Leben spielen, obschon sie sich, wie ich gestehen muß, während jener vier Tage in Riga mit der Zähigkeit eines Polypen, an den sie mich durch ihre langen weiß behandschuhten Finger erinnerte, an mich hängte. In diesen ständig empfangsbereiten Herzen gibt es jederzeit einen freigehaltenen Platz unter einem rosigen Lampenschirm, den sie immer wieder mit verzweifeltem Eifer dem ersten besten Besucher anbieten. Ich verließ Riga mit dem Gefühl verdrossener Erleichterung darüber, daß ich mit diesen Leuten nichts gemein hatte – auch nicht mit jenen spärlichen Vergnügungen, die der Mensch zu seiner Zerstreuung erfunden hat. Zum erstenmal dachte ich an meine Zukunft und überlegte mir, ob ich nicht mit Konrad nach Kanada auswandern sollte, um gemeinsam am Rande eines der großen Seen auf einem Bauernhof zu leben, wobei ich ganz vergaß, daß ich auf diese Weise über verschiedene Hoffnungen meines Freundes einfach hinwegging.
Konrad und seine Schwester erwarteten mich auf der Treppe unter dem Glasdach, dessen Scheiben im letzten Sommer kurz und klein geschossen worden waren, so daß die Eisenstangen wie die Rippen eines welken und zerzausten Blattes aussahen. Der Regen lief ungehindert durch, und Sophie hatte sich deshalb wie eine Bäuerin ein Taschentuch übers Haar gebunden. Beide hatten sich während meiner Abwesenheit alle Mühe gegeben, mich zu ersetzen. Konrads Gesicht war von einer perlmutterhaften Blässe; über meiner Besorgnis um seine anfällige Gesundheit vergaß ich an diesem Abend alles andere. Sophie hatte für uns eine der letzten, ganz hinten im Keller versteckten Flaschen französischen Weines heraufholen lassen. Meine Kameraden zogen ihre Regenmäntel aus, setzten sich zu Tisch und unterhielten sich lachend über ihre Rigaer Erlebnisse. Konrad hörte ihnen mit höflicher und belustigter Verwunderung zu. Er hatte mit mir ähnlich niederdrückende Abende erlebt, an denen man sich zu vergessen sucht; und eine Ungarin mehr oder weniger verwunderte ihn nicht weiter. Sophie biß sich auf die Lippen, als sie merkte, daß sie beim Füllen meines Glases ein wenig Burgunder vergossen hatte. Sie ging einen Schwamm holen und gab sich eine solche Mühe, den Fleck verschwinden zu lassen, als sei er der Zeuge eines Verbrechens.
Ich hatte Bücher aus Riga mitgebracht. Unter meinem aus einer Serviette gemachten Lampenschirm beobachtete ich Konrad, der neben mir in seinem Bett den Schlaf eines Kindes schlief, trotz der Schritte über uns, die von Tante
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