Der Fangschuss
unterbrochen, ohne daß wir wußten, ob der Schneesturm oder der Feind daran schuld war. In Wirklichkeit war das Dorf am Abend vor Weihnachten in die Hände der Roten gefallen. Der arg mitgenommene Rest von Brussaroffs Truppen lag in Gurna. Brussaroff selbst war schwer verwundet. Er starb eine Woche später. Da es keine anderen Kommandeure gab, war ich für den Rückzug verantwortlich. Ich versuchte einen Gegenangriff auf Munau, in der Hoffnung, die Gefangenen und das Kriegsmaterial zurückzuerobern, doch wurden wir dadurch nur noch mehr geschwächt. Wenn Brussaroff bei klarem Bewußtsein war, wollte er unter keinen Umständen Gurna räumen, dessen strategische Bedeutung er überschätzte. Ich habe übrigens diesen angeblichen Helden, der 1914 die Offensive gegen Ostpreußen leitete, immer für unfähig gehalten. Einer von uns mußte unbedingt nach Kratovice zurückkehren, um Rugen zu holen und zugleich von Wirtz einen genauen Lagebericht zu überbringen, oder vielmehr zwei Lageberichte: Brussaroffs und meinen eigenen. Ich wählte Volkmar fur diesen Auftrag, weil er allein die nötige Geschicklichkeit besaß, um mit dem Oberbefehlshaber zu verhandeln und Rugen zu überreden, zu uns zu stoßen. Ich habe vergessen zu sagen, daß Paul einen selbst in unseren Reihen überraschenden Widerwillen gegen die Offiziere des zaristischen Rußland empfand, obschon auch wir den Emigranten fast ebenso feindselig gesonnen waren wie den Bolschewiken. Eine andere und sozusagen berufsmäßige Eigenart Pauls bestand darin, daß seine ganze Teilnahme und Arbeitskraft nur den Verwundeten in seinem Lazarett galt, so daß der sterbende Brussaroff in Gurna ihn weniger interessierte als ein beliebiger Soldat, den er am Tag vorher operiert hatte.
Um Mißverständnisse zu vermeiden: Ich möchte nicht unnötig für noch verschlagener gehalten werden, als ich es vielleicht wirklich bin. Ich versuchte damals nicht (der bloße Gedanke daran macht mich lachen), einen Nebenbuhler loszuwerden, indem ich ihm einen gefährlichen Auftrag anhängte. Wegzugehen war nicht gefährlicher als dazubleiben; auch glaube ich nicht, daß Volkmar mir einen besonders gefährlichen Auftrag übelgenommen hätte. Vielleicht rechnete er sogar damit und hätte es gegebenenfalls mit mir ebenso gemacht. Ich hätte auch selber nach Kratovice zurückgehen und Volkmar mit Befehlsvollmacht in Gurna lassen können, wo der sterbende Brussaroff keine Rolle mehr spielte. Volkmar war damals zunächst ein wenig gekränkt, daß ich ihm die bescheidenere Rolle zugedacht hatte; später, als die Lage sich verschlimmerte, hat er es mir sicher gedankt, daß ich die Verantwortung selber übernahm. Es ist auch nicht wahr, daß ich ihn nach Kratovice zurückschickte, um ihm eine letzte Gelegenheit zu geben, mich endgültig bei Sophie auszustechen. Das sind Feinheiten der Motivation, wegen derer man sich erst nachträglich selber verdächtigt. Ich empfand Volkmar gegenüber nicht das Mißtrauen, das vielleicht zwischen uns normal gewesen wäre. Er hatte sich in jener kurzen gemeinsam verlebten Zeit wider alles Erwarten eigentlich als eher gutmütig erwiesen. In diesen Dingen wie in vielen anderen fehlte es mir außerdem an Spürsinn. Volkmars kameradschaftliches Verhalten war im Grunde keine heuchlerische Maske, sondern sozusagen ein Privileg des Soldatenstandes, das man mit der Uniform übernahm und wieder ablegte. Ich muß hinzufügen, daß er gegen mich einen alten animalischen und nicht nur eigennützigen Haß hegte. Er empfand mich offenbar als ein Ärgernis und wahrscheinlich genauso abstoßend wie eine Spinne. Möglicherweise hat er geglaubt, es sei seine Pflicht, Sophie vor mir zu warnen; jedenfalls bin ich ihm immer noch dankbar, daß er diesen Trumpf nicht eher gegen mich ausgespielt hat. Es war mir durchaus klar, daß es gefährlich für mich war, ihn wieder mit Sophie zusammenzubringen, immer vorausgesetzt, daß sie mir viel bedeutete; aber der Augenblick verbot derartige Überlegungen, die mein Stolz mir sowieso nicht erlaubt haben würde. Andererseits bin ich fest überzeugt, daß er mich nie bei von Wirtz angeschwärzt hat. Volkmar war anständig bis zu einem gewissen Punkt – wie alle Menschen.
Einige Tage später stieß Rugen mit ein paar gepanzerten Lastwagen und einem Krankenwagen zu uns. Da wir nicht noch länger in Gurna bleiben konnten, entschloß ich mich, Brussaroff mit Gewalt wegzuführen. Er starb, wie vorauszusehen war, unterwegs und erwies sich tot als ebenso
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