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Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
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sich. Das war eine Gegnerin, die mir gegenüberstand; und daß ich hinter Sophies Entsagung immer Haß gewittert hatte, zeigte mir wenigstens, wie hellsichtig ich war. Vielleicht hätte ein rückhaltloses Geständnis von meiner Seite sie davon abgehalten, auf diese Weise zum Feinde überzugehen; aber das sind Überlegungen, die ebenso müßig sind wie etwa die, ob Napoleon bei Waterloo hätte siegen können.
      »Vermutlich haben Sie diese Gemeinheiten von Volkmar.«
      »Ach der!« sagte sie mit einem Ausdruck, der keinen Zweifel erlaubte, wie sie über ihn dachte. Offenbar hatte sie in diesem Augenblick für uns beide und für alle anderen Männer die gleiche Verachtung.
    »Wissen Sie, was mich eigentlich wundert? Daß diese reizenden Gedanken Ihnen nicht schon längst gekommen sind«, sagte ich so obenhin wie nur möglich und versuchte sie in eine Auseinandersetzung zu verwickeln, in der sie noch vor zwei Monaten sicher den kürzeren gezogen hätte.
    »Ja«, sagte sie zerstreut. »Ja, aber das ist unwichtig.«
    Sie log nicht. Frauen nehmen nichts wichtig, nur sich selber. Jede andere Wahl ist in ihren Augen entweder ein chronischer Wahnsinn oder eine vorübergehende Verirrung. Ich wollte voll Erbitterung fragen, was denn für sie wichtig sei, als ich sah, wie sie in einem neuen Anfall schmerzlicher Verzweiflung blaß wurde, zitterte und ihre Augen sich mit Tränen füllten.
      »Immerhin hätte ich nicht geglaubt, daß Sie Konrad in all das hineinziehen würden«, sagte sie.
    Sie wandte den Kopf ein wenig zur Seite und wurde rot, als ob die große Schande einer solchen Anschuldigung auch auf sie selber zurückfiele. Jetzt begriff ich, daß Sophies Gleichgültigkeit gegen ihre Angehörigen, die mich lange Zeit empört hatte, ein täuschender Schein und eine instinktive List gewesen war, durch die sie ihnen jede Berührung mit dem Elend und dem Ekel, in die sie selber sich gestürzt glaubte, ersparen wollte. Ich begriff auch, daß ihre Zärtlichkeit für ihren Bruder unverändert und unsichtbar wie eine süße Quelle im Salzwasser des Meeres neben ihrer Leidenschaft für mich weiterbestanden hatte. Sie hatte darüber hinaus Konrad mit allen Vorzügen und allen Tugenden ausgestattet, auf die sie selber verzichtete, so als ob dieser schwache Junge ihre eigene Unschuld verkörpert hätte. Die Tatsache, daß sie ihn gegen mich verteidigte, rührte an die empfindlichste Stelle meines schlechten Gewissens. Alle Antworten wären besser gewesen als die, an der ich hängenblieb – aus Gereiztheit, aus Schüchternheit und in dem Wunsch, sofort zurückzuschlagen. In jedem von uns steckt ein unverschämter und stumpfsinniger Grobian; und dieser erwiderte ihr:
      »Die Straßenmädchen, liebe Sophie, haben nicht die Rolle der Sittenpolizei zu spielen!«
      Sie sah mich erstaunt an. Das hatte sie trotz allem nicht erwartet. Zu spät merkte ich, daß sie ein Leugnen meinerseits mit Freuden aufgenommen und ein Geständnis nur mit einem Tränenstrom beantwortet hätte. Sie beugte sich vor, runzelte die Brauen, suchte nach einer Antwort auf jenen kleinen Satz, der uns mehr als jede Lüge und jedes Laster voneinander trennte, fand aber nur ein wenig Speichel in ihrem Mund und spie mir ins Gesicht. Auf das Geländer gestützt, sah ich ihr stumpfsinnig zu, wie sie mit schweren und zugleich raschen Schritten die Treppe hinunterging. Als sie unten ankam, verhakte sich ihre Pelzjacke an dem rostigen Nagel einer Kiste. Sie riß sich los. Ein langer Fellstreifen blieb hängen. Kurz darauf hörte ich, wie die Tür der Halle sich hinter ihr schloß.
    Ehe ich in Konrads Zimmer trat, wischte ich mir das Gesicht mit meinem Ärmel ab. Durch die offenen Türflügel drang – halb Maschinengewehr, halb Nähmaschine – das knatternde Geräusch des Telegraphen. Konrad arbeitete mit dem Rücken zum Fenster an einem riesigen reichverzierten Eichentisch in der Mitte des Büros, in dem ein närrischer Großvater seinerzeit eine groteske Sammlung von Jagdtrophäen untergebracht hatte. Eine drollige und zugleich bedrückende Reihe von ausgestopften kleinen Tieren stand aufgereiht in verschiedenen Schränken – unter ihnen jenes mir unvergeßliche Eichhörnchen, das über seinem mottenzerfressenen Fell ein Tiroler Jäckchen und Hütchen trug. In diesem Zimmer, das nach Kampfer und Naphthalin roch, habe ich einige der entscheidendsten Augenblicke meines Lebens verbracht. Als Konrad mich eintreten sah, wandte er mir kurz sein blasses, von

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