Der Fangschuss
lästig, wie er es lebend gewesen war. Wir wurden ein paar Kilometer stromaufwärts angegriffen, so daß ich nur mit ein paar Leuten nach Kratovice zurückkam. Aus den Fehlern, die ich auf diesem Miniaturrückzug beging, habe ich manches gelernt, was ich einige Monate später während der Operation an der polnischen Grenze verwerten konnte, so daß jeder einzelne von meinen bei Gurna gefallenen Leuten mir später ein ganzes Dutzend Menschenleben rettete. Aber das ist gleichgültig. Der Besiegte hat immer unrecht, und ich verdiente sicher all die Vorwürfe, die auf mich niederprasselten – bis auf einen: daß ich die Befehle eines schon in der Agonie befindlichen Mannes nicht befolgt hatte. Am meisten traf mich der Tod von Paul. Es war mein einziger Freund. Ich bin mir klar, daß diese Behauptung offenbar allem widerspricht, was ich bisher gesagt habe. Wenn man nur darüber nachdenkt, ist es jedoch nicht schwer, diesen scheinbaren Widerspruch zu beheben. Die erste Nacht nach meiner Rückkehr verbrachte ich in den Baracken auf einer Matratze, die von Läusen wimmelte, welche uns zu all den anderen Gefahren auch noch mit Typhus bedrohten. Ich glaube, daß ich wie ein Toter schlief. Ich hatte, was Sophie betraf, meinen Entschluß nicht geändert; außerdem hatte ich gar keine Zeit, an sie zu denken. Vielleicht wollte ich auch meinen Fuß nicht unbedingt sofort in eine Falle setzen, in die zu gehen ich immerhin bereit war. Alles kam mir in jener Nacht würdelos, nutzlos, sinnlos und grau vor. Am nächsten Morgen – es war schmutziges Tauwetter mit Westwind – ging ich den kurzen Weg von den Baracken zum Schloß hinüber. Statt auf der Dienstbotentreppe zu Konrads Büro hinaufzusteigen, wählte ich die mit Stroh, und leeren Kisten halb versperrte Haupttreppe. Ich war ungewaschen und unrasiert und daher, falls mich Vorwürfe oder Liebesbezeugungen erwarteten, in einem Zustand absoluter Unterlegenheit. Auf der Treppe, die nur durch den schmalen Spalt eines zugestopften Fensterladens Licht empfing, war es fast dunkel. Plötzlich befand ich mich, zwischen dem ersten und dem zweiten Stock, Nase an Nase Sophie gegenüber, die gerade die Treppe herunterkam. Sie trug ihre Pelzjacke, ihre Schneeschuhe und einen kleinen Wollschal um den Kopf – wie die Frauen sich heutzutage in den Strandbädern ein seidenes Taschentuch um die Haare binden. In der Hand trug sie ein Paket, das in ein Tuch geknotet war. Ich hatte sie öfters ein solches Paket tragen sehen, wenn sie zu den Kranken hinüberging oder die Frau des Gärtners besuchte. Nichts von alledem war neu, so daß nur der Blick ihrer Augen mich hätte warnen können. Aber sie vermied es, mich anzusehen.
»Bei einem solchen Wetter wollen Sie ausgehen, Sophie?« sagte ich scherzend und versuchte, ihre Hand zu fassen.
»Ja«, sagte sie, »ich gehe weg.«
An ihrer Stimme merkte ich, daß es ihr Ernst war und daß sie wirklich wegging.
»Wo wollen Sie hin?«
»Das geht Sie nichts an«, sagte sie, zog ihre Hand mit einer schroffen Bewegung zurück, und ihre Kehle zeigte jene leichte Anschwellung, die an den Hals einer Taube denken läßt und verrät, daß man gerade ein Schluchzen unterdrückt hat.
»Und darf man vielleicht wissen, warum Sie weggehen?«
»Ich hab's satt«, sagte sie mit einem Zittern um die Lippen, das an Tante Praskovias Gesichtszucken erinnerte. »Ich hab's satt.« Sie nahm ihr lächerliches Paket, das ihr das Aussehen einer entlassenen Dienstmagd gab, aus der rechten in die linke Hand, stürzte nach vorn, als wollte sie mir entfliehen, kam aber nur bis zur nächsten Stufe, was sie mir gegen ihren Willen näher brachte. Darauf drückte sie sich an die Wand, um möglichst fern von mir zu bleiben, und sah mich zum erstenmal mit dem Ausdruck tiefen Abscheus an.
»Oh«, rief sie, »wie ihr alle mich anekelt …«
Ich bin sicher, daß alles, was sie dann noch sagte, nicht ihre eigenen Worte waren. Es war nicht schwer zu erraten, von wem sie herrührten. Es war wie ein jauchespeiender Brunnen. Ihr Gesicht hatte den groben Ausdruck einer Bäuerin angenommen. Ich hatte solche Explosionen obszöner Empörung bei Mädchen aus dem Volke schon früher erlebt. Es ist unwichtig, ob jene Anklagen gerechtfertigt waren oder nicht. Alles, was in solchem Zusammenhang gesagt wird, ist falsch. Was die Sinne an Wahrheiten erfassen, kann nicht in Worten ausgedrückt werden, es deutet sich höchstens in den Nuancen eines intimen Gesprächs an. Die Lage klärte
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