Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fangschuss

Der Fangschuss

Titel: Der Fangschuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marguerite Yourcenar
Vom Netzwerk:
hatte sich mit seiner üblichen Ungeschicklichkeit beim Versuch, den Schinken möglichst dünn zu schneiden, in den Finger geschnitten. Er hatte sich ein Taschentuch um den Finger gewickelt und benützte sehr geschickt die Silhouette dieses Verbandes, um mit seinen Händen überraschende Schattenspiele an der Wand aufzuführen. Er war blaß und hinkte immer noch von seiner kürzlich erhaltenen Verwundung. Von Zeit zu Zeit unterbrach er das Spiel, um eine neue Grammophonplatte aufzulegen.

    La Paloma war durch die näselnden Töne eines modernen Schlagers abgelöst worden. Sophie wechselte bei jedem Tanz ihren Partner. Tanzen verstand sie immer noch am besten. Sie wirbelte umher wie eine Flamme, wiegte sich wie eine Blume und glitt dahin wie ein Schwan. Sie trug ein nach der Mode von 1914 gearbeitetes Kleid aus blauem Tüll – das einzige Ballkleid, das sie je besessen und, soviel ich weiß, nur zweimal in ihrem Leben getragen hat. Dies altmodische und zugleich neue Kostüm genügte, um unsere gewohnte Kameradin mit einem Schlag zur Heldin eines Romans zu machen. Eine Fülle junger, in blauen Tüll gekleideter Mädchen, in den Spiegeln sichtbar, waren die einzigen Gäste unseres Festes; die Jungens, die übrig blieben, waren gezwungen, miteinander zu tanzen. Am Morgen war Konrad trotz seines kranken Beines in die Krone einer Eiche geklettert, um einen Mistelzweig herunterzuholen. Über diese jungenhafte Unvorsichtigkeit gerieten wir zum erstenmal miteinander in Streit. Wir haben uns nur zweimal in unserem Leben gestritten. Volkmar hatte die Idee gehabt, den Mistelzweig zu holen. Jetzt hing der grüne Zweig an dem düsteren Lüster, der seit den Weihnachtsfesten unserer Kindheit nicht mehr angezündet worden war; und die jungen Leute nahmen ihn zum Vorwand, ihre Tänzerin zu küssen. Jeder von ihnen drückte – einer nach dem anderen – seine Lippen auf die Lippen einer abwechselnd hochmütigen, belustigten, herablassenden, gutmütigen oder zärtlichen Sophie. Als ich in den Salon trat, war die Reihe gerade an Volkmar. Sophie wechselte mit ihm einen Kuß, der, wie ich nur zu gut wußte, nicht Liebe, wohl aber Heiterkeit, Vertrauen und gutes Einvernehmen bedeutete. Auf Konrads Ausruf: »Da bist du endlich. Wir haben alle auf dich gewartet«, wandte Sophie sich nach mir um. Ich stand abseits vom Licht im Rahmen einer der Türen des Musiksalons. Sophie war kurzsichtig. Sie erkannte mich aber, denn sie kniff ihre Augen zusammen. Sie legte ihre Hände auf jene verhaßten Epauletten, die die Roten gelegentlich den gefangenen Offizieren der Weißen ins Fleisch nagelten; und dann gab sie Volkmar einen zweiten Kuß, der mir den Krieg erklärte. Ihr Partner neigte sein gerührtes und zugleich erhitztes Gesicht über sie. Wenn dies der Ausdruck der Liebe ist, dann hätten die Frauen allen Grund, uns zu fliehen; und ich weiß nur zu gut, weswegen ich ihnen mißtraue. Mit ihren nackten Schultern, ihrem blauen Kleid und den kurzen, von der Brennschere leicht angesengten Haaren, die sie immerfort zurückwarf, hielt Sophie diesem Grobian die Lippen hin – verlockender und verlogener als nur je eine Filmschauspielerin, die noch mit den geschlossenen Augen der Lust nach der Kamera schielt. Das war zuviel. Ich packte ihren Arm und ohrfeigte sie. Der Schock und die Überraschung waren so groß, daß sie zurückwich, sich um sich selber drehte, mit dem Fuß gegen einen Stuhl stieß und hinfiel. Ihre Nase fing an zu bluten, was die Lächerlichkeit des Auftritts noch erhöhte.
    Volkmar war so verdutzt, daß er einige Zeit brauchte, ehe er sich auf mich stürzte. Rugen warf sich zwischen uns. Er zwang mich sogar, wenn ich mich recht entsinne, gewaltsam in einen Sessel, und das Fest hätte um ein Haar mit einem Boxkampf geendet. In dem allgemeinen Tumult verlangte Volkmar schreiend, ich solle mich entschuldigen. Zum Glück hielt man uns für betrunken, und der Streit wurde beigelegt. Wir hatten am nächsten Tag einen gefährlichen Auftrag durchzuführen, und außerdem prügelt man sich nicht am Weihnachtsabend mit einem Kameraden, und schon gar nicht wegen einer Frau, die einem gleichgültig ist. Man überredete mich, Volkmar die Hand zu drücken. Eigentlich war ich nur auf mich selber wütend. Sophie war in einer Wolke knisternden Tülls hinausgerauscht. Als ich sie von ihrem Tänzer wegzerrte, hatte ich das Schloß der kleinen Perlenkette zerrissen, die ihre Großmutter Galitzina ihr zur Konfirmation geschenkt hatte. Das nutzlose

Weitere Kostenlose Bücher