Der Fangschuss
Überanstrengung und Sorge gezeichnetes Gesicht zu. Ich stellte fest, daß seine blonden Haarsträhnen, die ihm immer wieder in die Stirn fielen, weniger dicht wirkten und weniger glänzten als früher. Mit dreißig Jahren würde er eine kleine Glatze haben. Konrad war Russe genug, um sich für Brussaroff zu begeistern. Er gab mir Unrecht – vielleicht auch um so mehr, weil er sich die ganze Zeit um mich geängstigt hatte. Gleich bei den ersten Worten unterbrach er mich:
»Volkmar glaubte nicht, daß Brussaroff tödlich verwundet war.«
»Volkmar ist kein Arzt«, sagte ich und fühlte, wie dieser Name in mir all die Bitterkeit wieder wachrief, die ich noch vor zehn Minuten keineswegs gegen diesen Mann empfunden hatte.
»Paul war von vorneherein überzeugt, daß Brussaroff bestenfalls noch zwei Tage zu leben hatte …«
»Und das es Paul nicht mehr gibt, bleibt nichts anderes übrig, als dir aufs Wort zu glauben.«
»Sag doch gleich, daß es dir lieber gewesen wäre, wenn ich nicht zurückgekommen wäre.«
»Oh, wie ihr alle mich anekelt!« sagte er und nahm den Kopf zwischen seine schmalen Hände. Es waren genau dieselben Worte, die Sophie gebraucht hatte. Bruder und Schwester waren beide gleich rein, gleich unduldsam und gleich eigensinnig.
Mein Freund hat mir den Tod jenes unklugen und schlecht unterrichteten Mannes nie verziehen; aber er hat mein Verhalten, das er persönlich so entschieden mißbilligte, öffentlich bis zuletzt verteidigt. Während ich am Fenster stand, hörte ich Konrad reden, ohne ihn zu unterbrechen; das heißt, ich hörte kaum, was er sagte. Eine kleine Gestalt, die sich gegen den Schnee, den Schmutz und den grauen Himmel abzeichnete, nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch und ließ mich nur eines fürchten: es könnte Konrad einfallen, aufzustehen und ans Fenster zu humpeln, um ebenfalls einen Blick hinauszuwerfen. Das Fenster ging auf den Hof; über die alte Bäckerei hinweg sah man eine Biegung der Straße, die auf der anderen Seite des Sees zu dem Dorf Marba führte. Sophie kam kaum voran in ihren schweren Schuhen, die sie mit großer Mühe vom Boden losriß und die riesige Spuren im Schnee zurückließen. Sie hielt den Kopf gebeugt und mußte offenbar gegen den Wind ankämpfen. Mit ihrem Bündel sah sie aus wie eine Hausiererin. Ich wartete mit angehaltenem Atem bis zu dem Augenblick, da ihr mit einem Schal umwickelter Kopf hinter der kleinen zerfallenen Mauer neben der Straße verschwand. Den Tadel, mit dem Konrads Stimme mich weiter bedrängte, nahm ich auf mich anstelle anderer Vorwürfe, die er mir berechtigterweise hätte machen können, wenn er gewußt hätte, daß ich Sophie allein und ohne jede Hoffnung auf Heimkehr ins Unbekannte fortziehen ließ. Ich bin sicher, daß sie in jenem Augenblick gerade genügend Mut hatte, um geradeaus zu gehen, ohne sich umzuwenden. Konrad und ich hätten sie leicht einholen und mit Gewalt zurückbringen können, aber gerade das wollte ich nicht – teils aus Rachsucht, aber auch, weil ich es nicht ertragen hätte, unser früheres gespanntes und eintöniges Verhältnis nach allem, was zwischen uns geschehen war, unverändert wiederaufzunehmen und weiter mitzuschleppen; teils aus Neugier und um dem Schicksal Gelegenheit zu geben, sich unbehindert zu verwirklichen.
Eins aber stand fest: Sophie würde sich sicher nicht Volkmar in die Arme werfen. Außerdem führte jener ehemalige Leinpfad sie nicht zu den Vorposten der Roten, was ich einen Augenblick lang vermutet hatte. Ich kannte Sophie zu gut, um zu wissen, daß wir sie nie wieder lebend in Kratovice sehen würden; trotzdem blieb ich überzeugt, daß wir uns eines Tages früher oder später wieder begegnen würden. Ich glaube, ich hätte sie auch dann unbehelligt davonziehen lassen, wenn ich die näheren Umstände unseres Wiedersehens vorausgesehen hätte. Sophie war kein Kind; und ich habe auf meine Weise genügend Achtung vor den Menschen, um sie an ihren entscheidenden Entschlüssen nicht zu hindern.
Sophies Verschwinden wurde, so sonderbar es auch scheinen mag, erst etwa dreißig Stunden später bemerkt. Wie zu erwarten war, schlug Chopin als erster Alarm. Er hatte Sophie tags zuvor gegen Mittag an jener Stelle getroffen, wo die Chaussee vom Ufer abbiegt und in einen kleinen Tannenwald verschwindet. Sophie hatte ihn um eine Zigarette gebeten, worauf er seine letzte mit ihr geteilt hatte. Dann hatten sie sich nebeneinander auf die alte wacklige Bank
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